Full Spectrum Dominance

Niels Werber findet die vergessen geglaubte "Geopolitik der Literatur" in der Populärkultur wieder

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung"? Man weiß zunächst nicht so recht, ob man den Untertitel von Niels Werbers Buch über die "Geopolitik der Literatur" ernst nehmen soll. Ist das nicht blumig formulierter Quatsch? Und wäre das, wenn man es denn ernst nähme, nicht doch eine Nummer zu groß für einen Literaturwissenschaftler? Wer wird sich denn gleich anmaßen, zwischen zwei Buchdeckeln eine ganze "Weltraumordnung" zu "vermessen"? Und was um Himmels Willen ist überhaupt eine "mediale Weltraumordnung"?

Wenn das nach den Machtgelüsten des Bösewichts Darth Vader aus George Lucas' "Star Wars"-Saga klingt, nach popkulturellen Blockbustern wie "Battlestar Galactica" oder phantastischen Szenarien wie dem Epos vom "Herrn der Ringe" - so ist dies von Werber auch intendiert, wie sich schnell herausstellt. Solche massenhaft konsumierten Fiktionen 'vermittelten' nämlich "auf populäre Art und Weise ein Wissen über den Zusammenhang von Techniken und Medien, Geo- und Biopolitik, Raumordnungen und Macht [...], das die Medien- und Kulturwissenschaften erst einmal zu bergen hätten".

Hier klingt eine Polemik an, die Werber jenseits eines ironischen Verständnisses des Konstrukts einer "Weltraumordnung" in seinem Buch immer wieder gegen diskursbestimmende Soziologen, Politologen und Medienwissenschaftler ins Feld führt. Ignorierten diese doch in ihrem Entwurf einer 'enträumlichten' Globalität, eines 'entgrenzten' westlichen "Empires" im Sinne von Michael Hardts und Antonio Negris gleichnamigem Buch (2000) die faktisch weiter bestehende Relevanz geopolitischen Denkens sträflich.

Um 1990 sei nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine ähnliche Fortschrittseuphorie entstanden wie bereits im 19. Jahrhundert, belehrt uns Werbers Buch. Neue Möglichkeiten medialer Kommunikation verführten einmal mehr dazu, die Menschheit unmittelbar vor dem Erreichen einer alle einenden New World Order zu wähnen: "Das Internet hätte dann als weltweites Kommunikationsmittel diesen Weltstaat so integriert wie vor hundertfünfzig Jahren Telegraph und Eisenbahnen den Nationalstaat."

Und tatsächlich haben wir das Gerede vom global village noch im Ohr, von der new economy, der global community ohne ein "Außen"- und damit auch immer vom angeblichen Verschwinden der Grenzen und des Raums. Doch jeder weiß mittlerweile, dass dieses gelobte Cyberia nicht nur Segnungen brachte, sondern ebenso intensiv von terroristischen Gruppierungen wie Al-Qaida genutzt und von (westlichen) Geheimdiensten überwacht wird. Auch die Kriege wollten seither nicht enden: "Schon vor 9-11 ließen die vielen blutigen Konflikte, Attentatsserien und Genozide die 1989/90 verkündigte finale Weltfriedensordnung als Illusion erscheinen", fasst Werber die Lage zusammen.

Um nur eines der vielen weiteren Beispiele zu nennen, auf die man beim Lesen seines Buchs von selbst kommt: Dass mit dem Mauerfall in Deutschland eine faktische Verschiebung der BRD-Grenze nach Osten einherging und die Bundeswehr nach dieser "Wiedervereinigung" der Nation bald begann, Auslandseinsätze vorzubereiten, die mittlerweile kaum noch einen bürgerlichen Wähler irritieren, kommt in solchen elegant und progressiv klingenden Analysen, wie sie Werber kritisiert, in der Tat nicht vor. Werber bemerkt dagegen, speziell in Deutschland erlaube die Selbstbeschreibung als Teil einer weltweiten "Netzwerkgesellschaft" die attraktive "Illusion, den als verhängnisvoll geltenden Raum politischer Souveränität ('Mittellage', 'Blut und Boden', 'Volk ohne Raum', Bedrohung aus dem Osten) endgültig verlassen zu können." Mittels der Assoziation des Phänomens medialer Globalisierung mit politischen Utopien hoffe man, diskreditierte Deutschlandbilder "in den Medien und Agenturen der Weltgesellschaft auflösen zu können" und die Vergangenheit vergessen zu machen, "in der Deutschland als geopolitische Macht aufgetreten ist".

Wer sich jedoch etwa öffentlich zugängliches Infomaterial der Bundeswehr besorgte, konnte auch schon vor dem 11. September 2001 auf einen Blick sehen, dass in Deutschland sehr wohl und ganz unverblümt an dem gearbeitet wurde, was mittlerweile endgültig Fakt geworden ist: Das Einsatzgebiet der deutschen Truppen erstreckt sich bereits "wieder" über die ganze Welt, und der dort ohnehin nur noch schwer zu plausibilisierende "Verteidigungsauftrag" mutiert zum "Kampfeinsatz" (vgl. dazu auch Jan Süselbeck, Neues über Krieg und Tod, in: "konkret" 8/2001).

"Wozu der ganze Aufwand", könnte man sich nun spottend mit Werber fragen, "wenn es doch gar keinen 'Raum' mehr gibt und die ganze Welt im Elysium einer Art globaldemokratischer Entterritorialisierung frohlockt?" Nein, weder in der heranwachsenden globalen Militärmacht Europas noch in den USA oder bei Al-Qaida hat man die Bedeutung besetz- beziehungsweise zerstörbarer Orte und ihres enormen Symbolwerts vergessen: Es gibt einen "Ground Zero", und die darauf folgenden Bomben auf Afghanistan und Bagdad wurden nicht ins 'Nichts' geworfen - genauso wie Israel sich seine antisemitischen "Hamas"-Feinde im Gaza-Streifen, die täglich Raketen auf schutzlose Zivilisten über die Grenze feuern, nicht einfach ausgedacht hat. Auch die Gefahr einer iranischen Atombombe, die in Zukunft auf eine israelische Stadt zielen könnte, um die Auslöschung des Judentums, die sich Präsident Mahmud Ahmadinedschad offen wünscht, wahr zu machen, ist eben kein bloßes Hirngespinst.

Auch wenn Russland aus der Sicht europäischer Kritiker "Krieg" mit Pipelines führt, die der monopolistische Konzern "Gazprom" nach Belieben auf- und zudreht und der deutsche Ex-Kanzler Gerhard Schröder gleichzeitig mit seinem 'Männerfreund' Wladimir Putin eine solche Gasleitung durch die Ostsee plant, um damit vom Hoheitsgebiet Polens unabhängig zu werden, ist selbstverständlich handfeste Geopolitik im Spiel. All diese konkreten Beispiele, die sich beliebig aus den täglichen Nachrichten weiter sammeln ließen, unterstreichen die schlagende Plausibilität von Werbers Argumentation. Europas neuere Entwicklung zeigt darüber hinaus, dass der Nationalismus keineswegs besiegt, sondern im Gegenteil erneut auf dem Vormarsch ist - man denke nur an die baskische ETA oder Schlagzeilen, die das Gastland Katalonien vor und während der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2007 provozierte.

Um die faktische Virulenz althergebrachten geopolitischen Denkens zu unterstreichen, zitiert Werber öfters aus einer militärischen US-Expertise für das Jahr 2020, die auf dem Land, zu Wasser, in der Luft und in den Medien, die dort eben auch als kolonisierbarer Raum wahrgenommen werden, eine "Full Spectrum Dominance" vorsieht. Für Werbers ehrgeiziges Buch folgt daraus aber noch mehr: Es ist nicht nur eines über den "Raum", sondern wie von selbst auch eines über die Konstruktion von Ethnien und von Feinden. Damit ist es auch eine Studie über den Rassimus, insbesondere die (literarische) Geschichte des Antisemitismus' und Antislawismus' in Deutschland - und es ist eine Untersuchung von Ideologemen, die weiter zu Kriegen führen werden.

Dass Werber gern von Niklas Luhmanns Systemtheorie aus argumentiert, spielt für sein Buch bemerkenswerterweise kaum eine Rolle. Ist es doch zum Beispiel viel wichtiger für sein Thema, den nationalsozialistischen Rechtsphilosophen und Theoretiker des staatlichen "Ausnahmezustands" Carl Schmitt zu zitieren - und zusammen mit ihm eine solche erdrückende Menge vernichtender Ideen aus dem Umfeld von Adolf Hitlers "Generalplan Ost" oder auch enstprechender literaturgeschichtlicher Interpretationen der Nazi-Germanistik, dass es einem angst und bange wird.

Doch Werber will damit nicht etwa Hans Grimms paradigmatische Illusion eines deutschen "Volks ohne Raum" (1926) wieder beleben, sondern er will zeigen, wie erstaunlich konstitutiv literarische Mythen seit Heinrich von Kleists "Hermannsschlacht" (1808) gerade auch für genuin deutsche Kolonialfantasien und ihre beispiellosen Folgen waren. Die überaus belesene und erhellende Form, in der Werber eine gefährliche Tradition von Kleists Kriegsliteratur über Gustav Freytags antisemitischen, antislawistischen und prä-deutschnationalen Best- und Longseller-Erfolgsroman "Soll und Haben" (1855) bis hin zu Arnolt Bronnens faschistischem Freikorpstext "O.S." (1929) nachzeichnet, gehört zu den Glanzleistungen der Studie. Bronnens Skandaltext verherrlichte ebenso wie Freytags Werk die bewaffnete Kolonisierung Polens durch "deutsche Kultur" und "deutschen Geist", betont Werber - und Bronnen fahre in seiner radikalisierten Fiktion schlicht das ein, "was Freytag und Kleist gesäht haben".

Dagegen fallen Kapitel wie das über Hermann Melvilles "Moby-Dick or, The Wale" (1855), das den Gegenraum des grenzenlos flutenden Meeres als "Plantage" perspektiviert, eher ab. Verblüffend ist aber, wie Werber es schafft, die verschiedensten Ebenen der Weltliteratur und der Internet- beziehungsweise Blockbuster-Medien zusammenzudenken: mutet es doch auf den ersten Blick ziemlich halsbrecherisch an, von Kleists Partisanenkriegspamphleten über obskure Science-Fiction-Rassenvernichtungsfantasien wie Stanislaus Bialkowskis "Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik" (1935) einen Bogen bis hin zu Lucas' Jedi-Rittern und John Ronald Reuel Tolkiens "Tho Lord of The Rings" (1954) - samt seiner Verfilmung in unserem Jahrtausend - zu schlagen.

Doch Werber will eben keine geopolitische Geschichte der deutschprachigen "Höhenkammliteratur" schreiben, sondern gerade zeigen, wie direkt diejenigen popkulturellen Massenerfolge die Raumwahrnehmung unserer Zeit abbilden, deren militärische und rassistische Effekte man anderswo zu kaschieren oder vornehm zu ignorieren versucht. War es doch in der Tat einmal an der Zeit, herauszuarbeiten, dass Tolkiens "Herr der Ringe" wie selbstverständlich Rassenvernichtung und Ausrottung rechtfertigt, genauso wie die unvermeidliche "Harry Potter"-Reihe mit der Rede von "purebloods" und "mudbloods" erbarmungslos an biopolitische Traditionen anknüpft, auf die man in konstruktivistischen und poststrukturalistischen Diskursen tunlichst nicht zu sprechen kommt. Doch dass Tolkiens Epos laut einer ZDF-Umfrage von 2004 das beliebteste Buch in Deutschland ist und in Großbritannien auf Rang zwei der Beliebtheitsskala firmiert, belegt laut Werber nichts weniger als die Tatsache, dass die verdinglichenden und rassistischen Ordnungen des Raums und seiner Bewohner, die hier kritiklos affirmiert werden, schlicht ein "alltägliches Geschäft" geblieben sind: Geopolitik sells.

So fragt der Autor am Ende rhetorisch, ob in solchen Fiktionen etwa das 'geopolitische Unbewusste' der 'neuen Weltordnung' zur Sprache käme? "Die Antwort lautet einerseits 'Nein', denn das Geopolitische ist in diesem Genre nichts 'Latentes' oder 'Unbewusstes'. Es ist vielmehr manifest, und man könnte diese literarischen und cineastischen Entwürfe besser zur Selbstbeschreibungssemantik einer Weltgesellschaft zählen, welche von populären Medien offenbar anders beobachtet werden kann als von Kulturwissenschaftlern oder Soziologen."

Diese Feststellung wird in Werbers erfrischendem Buch immer wieder schlagend belegt. Damit lässt sich weiter arbeiten: Gerade auch Germanisten können hier lernen, sich ohne Kanon-Scheuklappen neue interdisziplinäre Untersuchungsfelder zu suchen.


Titelbild

Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
333 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446209473

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