Hic sunt leones

Robert Stockhammer zu Karten, Meer, Text und Realität

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Forscher, der sich nicht nur in der deutschen und amerikanischen Literatur auskennt, sondern auch die Geschichte der Kartografie zu präsentieren weiß, der durch einen souveränen Umgang mit kurrenten Texttheorien nachhaltig beeindruckt und alles, was er schreibt, auch noch mit wunderbarem Bildmaterial belegen kann, zeigt sich von einer geradezu antiquierten Gelehrt- und Belesenheit. Nun wissen Kulturhistoriker mit den entferntesten und verrücktesten Belegen aufzuwarten, die beim Leser den Eindruck wecken, hier habe jemand unter Gefahr seines Lebens Berge und Meere überwunden und in gleichermaßen entlegenen wie verstaubten Archiven und Bibliotheken Wochen und Monate verbracht. Aber das sind nur Geschichten über Geschichten. Wir wissen nicht, wie Robert Stockhammer an seine Funde gekommen ist - dass das Ganze ein wenig profaner als hier skizziert geschehen sein wird, kann zumindest angenommen werden. Aber er hat - als passionierter Kartenfreak, der er zu sein scheint - vielleicht Verständnis dafür, dass bei einem solchen Thema auch unsereins die Assoziationen ein wenig aus dem Ruder laufen.

Nun, Karten, Meer, Land und Text sind die Themen, mit denen sich Stockhammer beschäftigt, mit der Lust daran und der Macht, die sich aus ihnen ableitet. Das Grundparadigma ist das unterschiedliche Verhältnis, das Texte und Karten zu ihren Gegenständen - der Wirklichkeit, dem Land oder Meer - haben, und die Beschreibungs-, Abbildungs-, Verweisungs- oder Repräsentationsmodi, die sie dabei ausbilden. Dass eine Karte nicht identisch ist mit dem Gebiet, das sie zeigt, ist dabei ebenso gewiss wie die qualitative Differenz zwischen dem Text und dem, von dem er spricht. Das ist interessant, aber noch interessanter (und komplizierter) wird das Spiel in dem Moment, in dem diese beiden Symbolisierungsformen nicht nur nebeneinander existieren (was sie ja nie tun, denn Karten und Texte sind immer schon, und sei es über die Erläuterung, durch die Einbindung in Texte oder die "Indexierung" von Orten in Karten aneinander gebunden), sondern ins unendliche Spiel miteinander geraten. Noch bemerkenswerter werden die Verhältnisse also dann, wenn literarische Texte sich von Karten anregen lassen und auf Karten als Referenzen verweisen.

Das kann auf verschiedene Weise geschehen. In Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" anders als in der "Insel Felsenburg" Ernst Schnabels, in den "Wahlverwandtschaften" Johann Wolfgang Goethes anders als in Adalbert Stifters Texten oder in Herman Melvilles "Moby Dick". Das ist das Spektrum der Texte, denen sich Stockhammer widmet.

Dass Karten dabei jeweils eine andere Bedeutung und Funktion haben, ergibt sich aus dem thematischen Fokus der Literatur: Während die Erkundung einer Gegenwelt bei Swift der utopischen Gesellschaft Schnabels noch recht nahe steht, gehören die "Wahlverwandtschaften" mit ihrem quasi landschafts- und gartenplanerischen Ansatz zu einer anderen Textklasse, wie im übrigen auch Stifters Lokalminiaturen, in denen große und kleine Welt in Gegensatz zueinander gebracht werden. Melvilles "Moby Dick" hingegen scheint wieder an den ersten Typus anzuschließen, wenngleich ihm keine Gegenwelt thematisch eingeschrieben ist, sondern die Suche nach einem besonderen Subjekt, das mit systematischen Suchinstrumenten nicht aufzufinden ist.

Im Vorlauf seiner kartografischen Literaturexegese vertieft sich Stockhammer in eine spezifische Problematik, die der Entwurf von Karten bereithält. Als Orientierungs- und Suchinstrumente sind Karten zugleich auf Abstraktion und Konkretion verpflichtet. Sie müssen pragmatisch funktionieren, sonst verlieren sie ihre Funktion. Damit sind sie zwar, wie Texte auch, Teil der Erklärungs- und Orientierungsinstrumentarien von Welt - mittelalterliche Karten, in denen Jerusalem das Zentrum der Welt darstellt, zeigen dies. Aber das Verhältnis zweidimensionaler Zeichnungen zu einer annähernden Kugelfläche ist in jedem Fall zweifelhaft (auch unter machttheoretischen Aspekten, denn die Erfassung ist nicht zuletzt eine Voraussetzung für die Beherrschung). Eine Orientierung nach Karten, insbesondere zur See, bleibt ein Wagnis, das eben nur von dem Wagnis übertroffen wird, sich ohne Karte fortzubewegen (was im Falle Kapitän Ahabs allerdings zum Erfolg führt).

Stockhammers kleine Einführung in die Kunst der Kartierung und ihre Geschichte aus der Eroberung der Welt und der Machtausweitung ist zumindest von stupender Eindringlichkeit und verweist nicht zuletzt darauf, dass auch Karten Projektionen und Abstraktionen sind, die auf Konventionen beruhen. Konventionen nun sind eine praktikable Orientierungsbasis - zumindest solange sie bestehen. Zerfallen sie - zum Beispiel im literarischen Spiel -, ist es auch damit vorbei. Die trügerische Sicherheit, in die die Karte ihre Benutzer wiegt, wird spätestens dann zerschlagen, wenn sie weder eindeutig auf die Realität verweist, noch sie ausdrückt, noch sie erklärt. Das geschieht dann noch einigermaßen gefahrlos, wenn ein solches Desaster nur literarisch geschieht. Ein Leser mag sich in diesen Fällen überfordert, amüsiert oder hintergangen fühlen (etwa von einem unzuverlässigen Erzähler) - in jedem Fall sieht er sich deutlich geringeren Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt als die Akteure seiner Lektüren oder als er selbst in vergleichbaren Situationen.

Allerdings lässt uns Stockhammers Studie (die selbst eher als Metaerzählung statt als Anamnese und Analyse daher kommt) darüber im Unklaren, dass sie immer wieder die Diskurse amalgamiert und sich kontrafaktisch aufeinander beziehen lässt. Das ist möglicherweise dem Wunsch geschuldet, diese Differenz nicht gelten zu lassen. Gelegentlich scheint es auch, als komme er von seinem ausdrücklichen Ziel ab, den Konstruktionscharakter der Literatur und ihren materialen Träger zu präsentieren. Das Imaginäre der Literatur, das er am Ende beschwört, scheint sich aus dem, was er erzählt, jedenfalls nicht so ohne weiteres ableiten zu lassen.


Titelbild

Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, Göttingen 2006.
233 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3770543041
ISBN-13: 9783770543045

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