Kleine Helden

Dejan Enevs Geschichten aus dem "Zirkus Bulgarien" erzählen von wunderlichen Nebenwelten

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Bulgarien, so erfahren wir von dem in Österreich lebenden bulgarischen Schriftsteller Dimitré Dinev im Nachwort zum vorliegenden Buch, spielt die Literatur eine untergeordnete Rolle. Man misstraue dem geschriebenen Wort und verlasse sich statt dessen lieber auf die große Tradition der Lieder. "Worte", so schreibt er, "die sich nicht für ein Lied eignen, erreichen weder das Ohr noch das Herz."

Nun mögen fachkundige Experten darüber entscheiden, ob die Bulgaren sich wirklich als ein "orphisches Volk" verstehen - an dieser Stelle interessiert ein anderer Aspekt: Lieder sind Teil einer lebensweltlichen Kommunikation. Sänger und Zuhörer schöpfen aus dem gleichen Erfahrungsfundus. Im Zusammenspiel der eingängigen Musik des Liedes und dem ,einfachen' Text schaffen Lieder einen eigenen Erzählkosmos, der nicht zuletzt durch das anrührend melancholische Moment der Melodie eine über die alltägliche Lebenswelt liegende Erfahrungswelt eröffnet. Diese Erfahrung ist unmittelbar, da die Lieder keine ,fachliche' Vermittlung brauchen. Jeder kennt sie, jeder kann sie.

Die von Dimitré Dinev für diesen Erzählband ausgewählten 57 Geschichten aus fünf in den letzten zehn Jahren entstandenen Erzählbänden des 1960 in Sofia geborenen Autors Dejan Enev haben alle diese unmittelbare Qualität. Die Lieder in Prosaform schöpfen aus dem lebensweltlichen Alltag, erzählen darüber in direkter Sprache und schaffen zudem jenen melancholischen Zauber, der das Tor in eine andere Erfahrungswelt zu öffnen vermag.

Dejan Enevs Geschichten erzählen aus einem Land, das zwar seit 2007 zur Europäischen Union gehört, den meisten ,Alteuropäern' aber weitgehend unbekannt ist. Ein stilles Land, aus hiesiger Perspektive seltsam abseits der großen europäischen Gewaltgeschichte der vergangenen Jahrhunderte gelegen. Fast 500 Jahre stand das Land unter türkischer Herrschaft, erst im 19. Jahrhundert trat es als territorialer und staatlicher Faktor wieder auf. Im Verlauf des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges war Bulgarien eins der wenigen Länder, in denen die Judenermordung durch den Widerstand der Bevölkerung verhindert werden konnte. Während der realsozialistischen Zeiten, die von 1954 bis 1989 von Todor Schivkow, dem dienstältesten aller kommunistischen Führer als Staats- und Parteichef bestimmt wurden, kamen wenig Informationen aus dem Land, außer der, das es verlässlich und eng an der Seite der Sowjetunion stand. Nach der politischen Wende begann ein mühsamer Demokratisierungsprozess, der freilich anders als im Nachbarland Jugoslawien vom gewalttätigen Zerfall der staatlichen Einheit und ethnischen Kämpfen weitgehend verschont blieb.

In Enevs Geschichten scheint die große Politik weit entfernt. Die Helden dieser Geschichten sind Außenseiter, Verlierer und Verlorene in einer Gesellschaft im Wandel. Sie besetzen einen Platz am Rande der Gesellschaft und behaupten dort eine Welt, die es längst nicht mehr gibt. So wie der Dompteur Pavel aus der titelgebenden Geschichte "Zirkus Bulgarien", der melancholisch und betrunken seinen großen Tagen als Zirkus-Dompteur nachsinnt. Oder die ,Verrückten', die in vielen Geschichten auftauchen, die Kinder, die Alten. Ihre Abgesondertheit von der Normalität, die uns als Verwahrung oder auszugrenzende ,Verrücktheit' erscheint, ist tatsächlich eine wunderliche Nebenwelt. Der Autor, der selber lange Zeit als Sanitäter und Altenbetreuer arbeitete, kennt den Zugang zu dieser Welt. Zuweilen einzig durch kleine genaue Beobachtungen öffnet er eine Tür, durch die uns der Zutritt ermöglicht ist. Doch wäre damit kaum etwas gewonnen, bliebe nur ein voyeuristischer Effekt. Tatsächlich gelingt Enev mehr. Er stattet seine Figuren mit Würde aus. Es ist die Würde jener Helden und Figuren aus solchen Liedern und Geschichten, die eine kollektive Erinnerung weitertragen. In Enevs Geschichten ist es die Erinnerung an eine Zeit des Lebens, die noch nicht ausschließlich von den verwirrenden Fremdbestimmungen einer neuen kapitalistischen Warenwelt geprägt war. Seine Figuren sind, indem sie an einem Punkt ihres Lebens zurückgeblieben, ,gescheitert' sind, dennoch ,bei sich' geblieben. Sie sind mit sich im Reinen. So sehr, dass sie für das neue glänzende Leben im westlichen Stil nicht taugen. Nicht zu verwechseln ist das mit einer nostalgischen Sehnsucht nach einer angeblich besseren Zeit im Sozialismus. Eher ist es jenes Leben in Einklang und Würde, das in den Nischen der realsozialistischen Lebenswelt stattfinden konnte. Die materielle Armut dieses Lebens war zwar ein Zwang, zugleich aber auch eine Herausforderung. Die Figuren in Enevs Geschichten transportieren diese Erinnerung. Sie tun dies ohne mahnende Hintergedanken. Es ist eine heitere Weltverlorenheit, die sie auszeichnet. In dieser Haltung sind uns die Helden in Enevs Geschichten voraus. Sie werden vergehen in ihrer wunderlichen Nebenwelt. Aber indem wir sie gehört haben, mahn(t)en sie uns.


Titelbild

Dejan Enev: Zirkus Bulgarien. Geschichten für eine Zigarettenlänge.
Mit einem Nachwort von Dimitré Dinev.
Übersetzt aus dem Bulgarischen von Katrin Zemmrich und Norbert Randow.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008.
237 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552060715

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