Vorläufer des Postkolonialismus

Alfred Döblins interkulturelles Erzählmodell

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der deutschsprachigen Literatur fehlt eine Bewegung, die mit dem postkolonialen Blick auf die Annektierung fremder Länder reagierte. In den USA, England oder Frankreich firmiert diese literaturwissenschaftliche Praxis unter dem Stichwort der Postcolonial Studies; ihre Prämisse lautet: The Empire Writes Back. Gerade im Kontext einer von den Medien (auch den Medien der Wissenschaft) inszenierten "Aktualität" interkultureller Begegnungen und daraus resultierender Konflikte können "die Geisteswissenschaften", deren aktualistisches Potential im Jahr der Mathematik wieder unzulässig reduziert zu werden droht, aufschlussreiche Erkenntnisse liefern.

Genau hier setzt die Monografie von Pierre Kodjio an: In seiner an der Universität von Yaoundé (Caméroun) entstandenen (und vom Verlag in fast schon sträflich zu nennender Weise nachlässig gesetzten) Arbeit fächert der Autor die Diskurse der Interkulturalität im Werk von Alfred Döblin auf. Flankiert von einem beeindruckenden Wissen zur postkolonialen Theorie, die auch im deutschsprachigen Raum unbekanntere Ansätze der französischsprachigen Literatur einschließt, geht Kodjio davon aus, dass Döblins fehlende Reiseerfahrungen (die einzige Ausnahme bilden die Reise nach Polen sowie die späteren Exilaufenthalte in Frankreich, der Schweiz und den USA) durch die Lektüre von Reiseberichten oder philosophisch-religiösen Schriften kompensiert wird und in ein "globales Erzählen" mündet.

Mit diesem Ansatz geht der Autor über bisherige Untersuchungen zum Thema hinaus, indem er die intertextuellen Schreibpraktiken als interkulturelle Hervorbringungen im Sinne der mental homelands (Salman Rushdie) ernst nimmt. Die Fokussierung von Textrezeption wie -produktion erweist, dass Döblin vermittelst intertextueller Praktiken totalitäre Diskurse, wie sie sich vor 1933 auch in der Literatur formierten, dekonstruiert.

Die methodische Reflexion auf den Zusammenhang von Eurozentrismus und Intertextualität mündet in eine methodologische Bestimmung des darstellungs- wie produktionsorientierten Ansatzes einer poetischen Inszenierung von Interkulturalität: indem Kodjio postkoloniale und postmoderne intertextuelle Analyseverfahren als dialogische Verfahren bestimmt, erweist sich die Vielgestaltigkeit und Kommunikationsbedürftigkeit der Diskurse. In einem breit angelegten Überblick über die Entwicklung des Fremdheitsdiskurses (anhand der Beispiele Indien und China) und des Europakonzeptes zwischen den Weltkriegen bei verschiedenen deutschsprachigen Autoren entwickelt Kodjio seinen Ansatz eines "globalen Erzählens" bei Döblin, das sich als intertextuelle poetische Praxis im Kontext des historischen Romans bewährt und nun von Kodjio im Kontext weiterer Schriften Döblins erprobt wird. Der summarischen Aufarbeitung des China- und Indienbildes kommt insofern eine herausragende Funktion zu, als dass Döblin sich im Verlauf seiner weiteren Entwicklung bei Literatur aus und über China und Indien bedienen wird, die bereits vielfältig präfiguriert ist (ähnliches gilt für das Bild Südamerikas, das Kodjio gleichfalls referiert). In diesem Kontext - das ist das Anliegen des Autors - soll die Wahrnehmung des Eigen- und Fremdkulturellen bei Döblin und ihre Rückwirkung auf Darstellungsformen untersucht werden.

Döblin unternimmt, ausgehend von Friedrich Nietzsches "Wille zur Macht", eine grundlegende Kritik des Anthropozentrismus, indem er - die Grenzen von Literatur und Philosophie überschreitend - anthropozentrische Philosopheme dekonstruiert. Der Mensch ist nach Döblin nicht allein triebgesteuert, sondern vielmehr kultur- und geschichtsgebunden. Damit stellt er den später von den Nationalsozialisten fokussierten Aspekt des Biologismus und der Rassenlehre in Frage. Kodjio leitet daraus eine prinzipielle Dekonstruktion autoritärer und monistischer Diskurse bei Döblin ab: diese bilde die Grundlage für eine andere Möglichkeit, dem Fremden zu begegnen. Der Autor entwickelt seine Lektüre dekonstruktiver Diskurse in Döblins Werk stringent an dessen Freud-Lektüre: die Komplexität der psychologischen Verfasstheit, die Freud für Döblin erwiesen hat, verabschiede eine auf Konsistenz und Kongruenz zielende Identitätspolitik. In seinen philosophischen Essays und literarischen Schriften entwickele Döblin die Pluralität der Identität und denzentriere das westliche Subjekt auf diese Weise. Wesentlich seien dafür neben der Lektüre von Nietzsche und Freud die Begegnung mit asiatischen Vorstellungen, aus deren Studium heraus er eine kosmozentrische Auffassung des Zusammenwirkens von Mensch und Natur entwickele.

Anhand der Metapher vom Kannibalismus untersucht Kodjio Döblins Kritik des modernen Gewaltbegriffs. Es erweist sich, dass der kannibalisch dargestellte Übergangsritus des Schamanen, den Döblin in Manas gestaltet, der Darstellung einer anthropozentrismuskritischen Ich-Dissoziation entspricht. Ein solches Verständnis vom modernen Subjekt bildet die Grundlage, auf der Döblin die Kommunikation zwischen dem Ich und der Natur vermittelt sieht. Magische Visionen - seien sie chinesischen oder indischen Ursprungs - dienen Döblin dazu, das Anthropozentrische zu dekonstruieren und einen Kosmozentrismus poetisch zu konstruieren.

In Döblins jüdischen Wurzeln sieht Kodjio einen Anlass für dessen lebenslange Auseinandersetzung mit Ethnozentrismus und Ideologemen. Seine Beschäftigung mit europäischen Vorurteilen und sein ambivalentes Verhältnis zum Judentum eröffneten ihm einen Zugang zu anderen Kulturen, weil er über die Fremdheit im eigenen Lande (Deutschland) und der eigenen Religion nachdachte. Die Reise nach Polen stellt insofern einen Wendepunkt in Döblins Schreiben dar, als dass dort die Begegnung mit einer großen Zahl von Aschkenasim (osteuropäischen Juden) Döblin eine doppelte Perspektivierung abverlangt: zum einen eine Selbstbetrachtung der eigenen Wurzeln, zum anderen die Fremdbetrachtung, die eine Öffnung für Diskurse des Fremden und des Eigenen bedeutet. Das daraus für die Darstellung abgeleitete Bild des Ostjuden ist ein polyvalentes, geschichtetes zwischen Säkularisierung und Synkretismus. Judentum wird so von der pejorativen, da antisemitischen Verwendung als essentialistischer Begriff von Döblin als Beispiel für gelungene Interkulturalität umgedeutet und rückwirkend auch so verschriftlicht. Dieses problematische, aber zugleich produktive Verhältnis zum Judentum prägt in seiner Struktur auch Döblins Verhältnis zum Pangermanismus und zur Ideologie des Krieges.

In seiner Amazonas-Trilogie inszeniert Döblin die Begegnung zwischen Europäern und Indianern anhand der Geschlechter-Diskurse: Döblin verwendet das Bild der männermordenden Amazonen in Absetzung zum 'weißen Mann' (Kolonisator). Die Rekonstruktion des kolonialistischen Diskurses über 'die Indianer' anhand der Sonderrolle 'der Amazonen' erlaubt die Auflösung binärer Oppositionspaarbildungen und deren Ersetzung durch einen Kosmogonismus. Aber auch das Bild des Europäers wird von Döblin als Inszenierung ausgewiesen, wenn er erzählerisch die Perspektive 'des Amazonas-Indianers' beansprucht. Die Krisensituation der dargestellten Indianer (ihre Reduktion als Rohstofflieferanten) sowie der europäischen Eroberer (die der neuen Techniken durchaus nicht Herr werden) führt auf beiden Seiten zum einem Krisenbewusstsein, das letztlich - so die Lesart Kodjios - zur Anführung antitotalitärer und antikolonialer Diskurse führe. Anders als die bisherige Forschung kann Kodjio verdeutlichen, dass die Amazonas-Trilogie als antikolonialer Roman zu lesen ist, wenn man berücksichtigt, dass die Amazonas-Indianer zunehmend Kritik an ihrer Unterdrückung üben.

Döblins interkultureller Ansatz besteht also darin, dass er intertextuell arbeitet und auf diese Weise verschiedene Kulturen in Dialog treten lässt. Chinesische, südamerikanische und indische Kulturen dienen Döblin dabei als Folie, mit deren Hilfe er Kritik an der europäischen Wirklichkeit und ihren totalitären Diskursen zwischen 1914 und 1945 üben kann. Es ist Kodjios Verdienst, Döblins poetische Praxis der Interkulturalität mittels Intertextualität herausgearbeitet zu haben - die Forschung stützt sich bislang vor allem auf seine essayistisch-kulturtheoretischen Schriften. Die dialogische Praxis, die Döblins Schreiben ausstellt, betrifft das Gespräch verschiedener Kulturen ebenso wie die Verflechtung verschiedener Textebenen. In einer genauen und detailreichen Lektüre legt Kodjio die vielfach überlagerte diskursive Schreibpraxis Döblins dar. Dass sich sein Begriff von Intertextualität nicht im schlichten Nachweis von Prätexten oder Textübernahmen erschöpft, kommt einer theoretisch avancierten Auffassung von Intertextualität als prinzipieller poetischer Praxis entgegen; so gewinnt die Tiefenanalyse an methodologischer Schärfe. Dass Döblins Entwurf einer Vermittlung zwischen den Kulturen mittels Literatur ein mental homeland bildet und kaum Widerhall in der Wirklichkeit fand, verschweigt Kodjio nicht - aber er verweist auf die Bedeutung von Döblins Konzept eines virtuellen, ideologiekritischen Raums, in dem die Kulturen miteinander ins Gespräch treten können. Und das ist auch heute noch ein berechtigtes und notwendiges Ziel.


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Pierre Kodjio Nenguie: Interkulturalität im Werk von Alfred Döblin. Literatur als Dekonstruktion totalitärer Diskurse und Entwurf einer interkulturellen Anthropologie.
ibidem-Verlag, Hannover 2007.
345 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783898215794

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