Vollbracht

In "Somnia. Tagebuch 1991" ist Walter Kempowski mit der Welt versöhnt

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Kempowski starb im Alter von 78 Jahren am 5.Oktober 2007. Als letztes vollendetes Werk hinterließ er das jüngst erschienene Tagebuch des Jahres 1991. Nach Anlage und Stil ist es seinen drei Vorgängerbänden gleich, namentlich wegen der zeitgeschichtlichen Nähe, dem letzten Band "Hamit".

Die Aufregungen, Erschütterungen des Jahres der deutschen Wiedervereinigung, der Wiederbegegnung mit der Heimat Rostock und Bautzen und zugleich des Abschiedes von ihr liegen hinter ihm. Zwar lässt er sich bei besonderen Ereignissen wieder von der politischen Gegenwart gefangen nehmen - dem Golf-Krieg, der Hauptstadtdiskussion, dem Putschversuch gegen Gorbatschow in der Sowjetunion und dann deren Ende -, doch im Vordergrund stehen die Themen der eigenen Arbeit und, damit eng verbunden, der eigenen körperlichen und seelischen Befindlichkeit: Das Tagebuch endet abrupt am 21. Dezember mit dem Schlaganfall des Autors.

Nebenher pflegt Kempowski seine bekannten politischen Idiosynkrasien, und es beschäftigt ihn natürlich weiterhin die Frage seiner Anerkennung respektive Missachtung durch Feuilleton und professionelle Literaturkritik, oftmals verknüpft mit Seitenhieben aller Art gegen Kollegen von Alfred Andersch über Heinrich Böll bis zu Stephan Hermlin. Zuweilen, in Augenblicken besonderer Schwäche - "der Selbstvernichtung nahe" wie etwa am 28. Juli -, überkommt ihn "kalte Wut", mal gegen das "68er Intellektuellenpack", mal gegen Saddam Hussein ("zermalm[en]", "zerquetschen"), mal gegen "die Deutschen" ("infantil, ja debil", "Scheißvolk"), wenn sie für den Frieden demonstrieren oder - wie ein Ost-Pastor - nach eigenem Bekunden über den Fall der Mauer "entrüstet" gewesen sind.

Aber das alles sind Nebenschauplätze. Die Arbeit an Schreibtisch und Computer sowie zahlreiche Lesereisen, welche neben ansehnlichen Einkünften auch zunehmend Anerkennung beim Publikum und dem unersättlichen Sammler weitere Fundstücke bringen, nehmen seine ganze Nerven- und Arbeitskraft in Anspruch. An erster Stelle das Projekt "Echolot, ein kollektives Tagebuch", dessen Titel zu dieser Zeit längst feststeht. Es tritt nunmehr aus der jahrelangen Phase des Sammelns und Sichtens von unveröffentlichtem autobiografischem Foto- und Schriftmaterial in das Stadium des Ordnens, Auswählens und Komponierens für eine Veröffentlichung, deren Gesamtkonzeption sich erst langsam herausbildet.

Das bedeutet freilich nicht, dass nicht doch noch weiteres Material anlandet, das in den Computer eingegeben werden muss, wie zum Beispiel die Aufzeichnungen des Lehrers Rudolf Tjaden am 19. Februar: "Tippe augenblicklich an Tjadens Wehklage über seinen Sohn." Jedem Echolot-Leser wird das Bangen und Trauern dieser Familie um den Sohn Enno in Stalingrad, dem zentralen Ereignis der ersten Bände, nicht so schnell aus dem Kopf gehen, und dementsprechend berührt es, wenn Kempowski jetzt vom Bruder Ennos am Telefon erfährt, "nein, sie haben nie wieder etwas von ihm gehört".

Im Mai trifft er im Auto auf der Fahrt nach Hamburg die Entscheidung, Fotos auch aus der Zeit vor und nach dem Januar/Februar 1943 zwischen die Texte zu schieben, nachdem die wichtigste Idee überhaupt, die über die Aufnahme nicht nur unveröffentlichter, sondern auch veröffentlichter Texte, bereits in einem früheren Stadium gefallen war, was die Materialbasis ins schier Unermessliche erweiterte.

Trotz immenser Anstrengungen und gewiss auch Fortschritte - nicht zuletzt dank der öfters dankbar erwähnten Mitarbeit von Simone Neteler - zweifelt Kempowski immer wieder an dem ganzen Unternehmen. Im Mai fehlt ihm "ein wirklich großer Gedanke", und er sinniert: "Man müßte, wenn alles fertig ist, die ganze Geschichte durch eine Art Reißwolf jagen, der nach ständig wechselnden Prinzipien die einzelnen Seiten austauschen würde. Das Ganze wäre dann unlesbar, käme dem jedoch, was ich beabsichtige, näher."

Natürlich beschwert ihm die Last, die er sich aufgebürdet hat, ohne dass er das oft betonte, auch das Gemüt. Am 27. Juli notiert er: "'Echolot': Der Druck ist enorm. Die Leidensessenz der vielen Schicksale kristallisiert sich in meiner Seele." Und am 19. September träumt er "Farbaufnahmen von deutschen Landsern, wie sie als Gefangene über ein grünes Feld getrieben werden. 'Sie werden alle zugrunde gehen', denke ich und weine."

Gleichwohl bleibt er dabei: "Ein starker Antrieb für die Arbeit am 'Echolot' liegt im Denunziatorischen des Unternehmens. Und dieses wird ihm auch Leser zuführen (das Leserinteresse wecken)." - Sage einer, Kempowski sei naiv. Er weiß, dass sein Impuls, private Schicksale, Gefühle und Ansichten, mögen letztere auch gegen die politische Korrektheit verstoßen, in die 'große' Geschichtsschreibung einzubringen, von nicht wenigen Lesern geteilt wird - von den einen mutmaßlich aus Gründen der Pietät und Gerechtigkeit, von anderen "aus vaterländischem Eigensinn", wie er ihn sich selbst einmal bei früherer Gelegenheit attestierte. Dies "denunziatorisch" zu nennen, mag angesichts des Resultats etwas übertrieben sein, aber es entspricht Kempowskis rebellischem Impetus gegen die herrschende Meinung und Sichtweise.

Außer der fast täglichen Fron am "Echolot" schreibt er 1991 den auf Anraten seiner Frau als "Episode" deklarierten Roman "Mark und Bein" zu Ende, Frucht einer - wie in "Culpa. Notizen zu 'Echolot'" (2005) zu erfahren - 1987 von den Ford-Werken finanzierten Kurzreise in das nördliche Polen, das ehemalige Ostpreußen. Das Tagebuch meldet dazu in Abständen nach Art von Wasserstandsmeldungen Fortschritte in zunehmenden Seitenzahlen ("wir haben jetzt über die Flaggen 106 Seiten"). Kempowski nennt es sein bisher "bösartigstes" Buch, bei Lesungen zeigen sich die Zuhörer "einigermaßen verdattert", was einerseits auf die zahlreichen Sarkasmen über die realsozialistische Wirklichkeit im Polen des Jahres 1987, der Romanzeit, zurückzuführen sein mag, zum anderen aber auch auf den rabenschwarzen Pessimismus des "alles umsonst", der sich gegen Ende des Buches Bahn bricht.

Wie nie zuvor lässt das "Tagebuch 1991" an dem seelischen Auf und Ab des arbeitswütigen Autors teilhaben. All das "Elend von damals" zwinge ihn "in einen die Treppe hinaufstürmenden Eifer, der sich nicht dämpfen lässt". Die Erschöpfung stürzt ihn wiederholt in Verstimmung, Lähmung, Lebensekel: "Es ist genug [...] Mehr gibt die Kraft nicht her." Er kennt seine "mühsam gezimmerte Gleichgewichtsplattform, die wie ein Sarkophag meinen chaotischen Lebensgrund verschlossen hält", deshalb auch sammelt er Spielzeugburgen als Symbole der menschlichen Seele, die eine feste Burg braucht. Endlich dann einmal ein Moment der Ruhe und Ausgeglichenheit - wo sonst als in Rostock: "Marienkirche. - Jetzt spielt die Orgel gerade das 'tapfere' 'Christ unser Herr zum Jordan kam'. Ich kenne es aus Bautzen. - Das ist mein Stück, so getrost und freimütig. Auch 'einfach'. - So möchte ich sein."

Getrost, freimütig, einfach - letzteres in beziehungsvollen Anführungszeichen - keine schlechte Umschreibung seiner Person und seiner ganzen Schriftstellerei. Das uneitle Einfache seines Stils kommt aus einem Ideal trotziger Nüchternheit, er will dezidiert nicht einschüchtern. Über seinen Freimut braucht kein weiteres Wort verloren zu werden. Schließlich getrost? War er es wenigstens in den sechzehn Lebensjahren, die ihm noch verblieben? Zumindest die öffentliche Nichtachtung, die ihn so lange kränkte und (seiner Mutter wegen?) auch schmerzte, hatte bald nach 1991 ein Ende. Nun versammelten sich alle die Ehrungen und Anerkennungen, nach denen es ihn so verlangte: Ehrenbürgerschaft, Ehrendoktorat, Literaturpreise, Stiftung, Archiv. Getrost legt darum auch der Leser den Band aus der Hand, verabschiedet mittels Nachtrag aus dem Jahr 2007 von Kempowski himself:

"Wer hätte sich das damals vorstellen können, daß Jahre danach am Pariser Platz [in der "Kempowskis Lebensläufe(n)" gewidmeten Ausstellung der Akademie der Künste] alles zusammengetragen werden würde? All die Voraussetzungen präsentiert, die mir den langen Weg zu gehen ermöglichten. Und wer hätte denken können, daß ich selbst an diesem Tag, diesem großen, lebensabschließenden Ereignis, nicht beiwohnen kann? Der Bundespräsident bezeichnete mich als Volksschriftsteller, und ich bin nicht einmal in der Lage, ihm handschriftlich zu antworten. So viele Menschen, denen auf einmal die Augen aufgehen. Und Rostock noch außerdem! Die fleißigen Archivare dort, die das 'Bürgerliche Haus' in Ordnung halten, die Stadt, die sich meiner erinnert hat und mich im bürgerlichen Sinne hoch geehrt - wer hätte das gedacht? In dem Maße, wie dort nun auch die Marienkirche in Ordnung gebracht wird, habe ich meine Arbeit vollbracht, beendet! Und alle haben es sehen können."

Eine Frage bleibt zum Schluss doch noch: Gibt es eine andere Seite Kempowskis jenseits der Tagebücher? Er soll sich noch auf dem Sterbebett mit "Memoiren" beschäftigt haben, welche die "andere Seite", so seine Auskunft gegenüber Jörg Drews, präsentieren würden. Man ist versucht zu denken: Er konnte wohl nicht anders, er musste immer eine Arbeit, eine Aufgabe vor sich haben. Und außerdem, es würde zu ihm passen, zu seiner unermüdlichen schriftstellerischen Bewirtschaftung der eigenen Vita.


Titelbild

Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991.
Knaus Verlag, München 2008.
557 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783813503135

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