Der olympische Hitlergruß

"Medienereignisse der Moderne" - Beiträge einer Gießener Ringvorlesung

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hervorgegangen ist der vorliegende Band aus der Ringvorlesung des Gießener Graduiertenkollegs "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart". Er vereint so unterschiedliche Beiträge wie den zur Medienwirkung der Pariser Februarrevolution und den zur Fußballweltmeisterschaft 1954.

Eines der erschütterndsten Ereignisse, die früh zu einem gigantischen Medienwirbel führten, der bis heute immer wieder aufflammt, ist der Untergang der Titanic. Frank Bösch weist in seinem Beitrag nach, dass die Aspekte, die in den medienwissenschaftlichen Studien über den Untergang der Titanic dominieren - "transnationale Trauer" und Technikkritik - nicht ganz der tatsächlichen zeitgenössischen Medienberichterstattung entsprachen. Davon abgesehen, dass viele Zeitungen aufgrund von Konkurrenzdruck und widersprüchlichen Meldungen zunächst alle Passagiere gerettet sahen, hielt, nachdem das ganze Ausmaß des Unglücks bekannt wurde, die neue menschliche Brüderlichkeit, an die die "Times" glaubte, nicht lange an. Die Deutschen beschuldigten - vor dem Hintergrund eigener Ambitionen in der Schifffahrt - die Engländer, das Unglück durch überhöhtes Tempo und fehlende Rettungsboote verursacht zu haben: Die französische Presse setzte noch eins drauf, indem sie von "englischer Sportwut" und "amerikanischem Wettfanatismus" sprach, während die Engländer die amerikanische Untersuchungskommission anklagten, weil sie britische Staatsbürger verhörte. Auch im geschlechtsstereotypen Verhalten der Passagiere finden sich nationalistische Klischees wieder: Während die Engländer heldenhaft Frauen und Kinder retteten beziehungsweise stoisch weiter ihr Musikinstrument spielten, wurde den Italienern, Chinesen und Kroaten nachgesagt, sie würden alle Tricks anwenden, um in Rettungsboote zu gelangen. Ebenso konnte von Technikkritik keine Rede sein, wenn schon kurze Zeit später berichtet wurde, dass die drahtlose Telegrafie vielen Passagieren das Leben gerettet habe. Und nur einen Monat nach dem Untergang wurde die noch größere "Imperator" bei ihrem Stapellauf recht kritiklos gefeiert. Ein weiterer Aspekt, die Klassenzugehörigkeit der Geretteten, spielte in der Berichterstattung eine bedeutende Rolle. Nicht nur die sozialistische Presse prangerte an, dass 60 Prozent der Erste-Klasse-Passagiere, aber lediglich 25 Prozent der Nutzer der Dritten Klasse in ein Rettungsboot gelangten. Diese beiden - in der Medienanalyse gelegentlich weniger beachteten - Aspekte flossen dagegen in die jüngste Medienadaption durch James Cameron ein: Der männliche weiße Held und seine Klassenzugehörigkeit.

Außerdem lässt sich eine beeindruckende Parallele zur Gegenwart ziehen: Die Fotos vom Untergang beziehungsweise dem Rettungsboot stammten von privaten Fotografen, die bereits soweit in die Medienpraxis eingewiesen waren, dass sie zügig ihr Material den Medien zur Verfügung stellten. Auf ähnliche Weise gewonnenes Material hat der Weltöffentlichkeit auch die Tsunami-Katastrophe in Südasien 2004 und den Terroranschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 "nahe gebracht".

Wie der 11. September medial inszeniert und aufgenommen wurde, ist Ausgangspunkt des Beitrags von Claus Leggewie. Irritiert schon die Faszination angesichts eines irgendwie ästhetischen Anblicks der Katastrophe in der westlichen Welt, so erschreckt die Freude, mit der der Anschlag in Teilen der muslimisch-arabischen Welt aufgenommen wurde. Leggewie nimmt dies zum Anlass, Al Quaida selbst als medial und global operierendes Netzwerk zu beschreiben, das nicht mehr lokal oder national zu "fassen" sei. Gewaltakte werden als religiöse Akte inszeniert und modernste Medien wie Mobiltelefonie, Online-Magazine, Chatrooms und Internetforen werden zur Kommunikation und Deutung ebenso genutzt wie Printmedien und Videobänder. "Die Organisation denkt über und wie das Internet, sie ist vernetzt über und wie das Internet, sie ist allgegenwärtig über und wie das Internet." Durch dieses Netzwerk und durch die Nutzung moderner Kanäle erreicht Al Quaida auch westliche Sympathisanten, Einwanderer der zweiten oder dritten Generation, die einerseits mit der Tradition gebrochen haben und sich andererseits gegen die westliche Konsumkultur auflehnen. Leggewie warnt davor, nur eine mögliche Weiterentwicklung zu sehen: die Radikalisierung der Bewegung. Möglich sei auch ein Absterben des Netzwerks, ebenso wie die Transformation in eine zivile sozial-religiöse Bewegung.

Zwei Beiträge beschäftigen sich mit medialer Inszenierung des Nationalsozialismus. Heidemarie Uhl analysiert die Reaktionen der demokratischen und rechtsradikalen Medien Österreichs auf die Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust" und die Rolle, die diese Serie in der Entwicklung einer neuen nationalen und globalen Gedächtniskultur seit den 1980er-Jahren spielte.

Frank Becker betrachtet die Vieldeutigkeit und die unterschiedlichen Perspektiven auf das Medium Sport während der Olympiade 1936. Einerseits trafen sich im olympischen Gedanken nationalsozialistische Ideen mit solchen, die mit dieser Veranstaltung seit jeher assoziiert waren: Sport als Prophylaktikum gegen die Dekadenz der Moderne, die Idee des Wettkampfes, der Glaube an Instinkt, Willen und Leidenschaft. Daneben wurde der Gedanke des olympischen Friedens von einem Regime, das (noch) der internationalen Gemeinschaft seine eigene Friedfertigkeit demonstrieren wollte, instrumentalisiert. Gegenläufige Bewegungen hierzu existierten daneben in Form des Arbeitersports, der den Wettbewerbsgedanken zugunsten von Solidarität vernachlässigte sowie in der Wehrsportbewegung, die keinesfalls pazifistisch geprägt war.

Der von den Franzosen 1936 gezeigte olympische Gruß wurde von Beginn an als Hitlergruß interpretiert. Sowohl das anwesende Publikum an diesem Tag als auch die Regisseurin Leni Riefenstahl verstanden die Geste so beziehungsweise wollten sie als Unterwerfungsgeste verstehen. Diese unkritische Lesart setzte sich nicht nur in populärwissenschaftlichen Werken, sondern auch bei zahlreichen Wissenschaftlern durch. Zu hinterfragen wäre dagegen vielmehr, ob seitens der Franzosen eine Fehldeutung des Grußes in Kauf genommen wurde, da bereits bei den vorangegangenen Winterspielen der gezeigte Gruß entsprechend missverstanden wurde.

Die Architektur des Berliner Olympiastadions gab von jeher Anlass zu verschiedenen Sichtweisen, assoziieren ließen sich gleichermaßen Antike, Moderne und Gigantomanie. Die aus Untersicht gemachten Aufnahmen von Athleten hatten vermutlich weniger mit nationalsozialistischer Überhöhung zu tun als mit dem abgesenkten Rundlauf um die Aschenbahn, der es Fotografen ermöglichte, ohne Behinderung von Sportlern und Zuschauern zu arbeiten. Die Interpretation von Riefenstahls Olympia-Film, so Becker, sei zu stark geprägt von späteren Filmen, in denen nationalsozialistische Topoi wesentlich stärker seien.

Und die im Ausland verbreitete Legende, Hitler habe sich geweigert, Jesse Owens die Hand zu schütteln, ist bis heute verbreitet. So gibt und gab es zahlreiche fehlgehende oder sich widersprechende Deutungen: "Oft war davon die Rede, dass Nazi-Deutschland die Spiele nutze, um sein rassistisches Menschenbild trotzig in Szene zu setzen, um aller Welt mit Nachdruck die Überlegenheit des germanisch-deutschen Menschen vor Augen zu führen; genauso oft hieß es aber auch, dass Deutschland sich bescheiden, freundlich und zurückhaltend zeige, um der Welt Sand in die Augen zu streuen[...]."

So sensibilisiert Becker für die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten olympischer Gesten und Symbole und ihr mögliches Gewolltsein. Sein kritischer Blick sollte den Beobachter der Olympischen Spiele in China begleiten, wenn China und die Weltöffentlichkeit um eine Haltung ringen, die sowohl den Tibetern als auch den Ausrichtern der Spiele gerecht wird - wenn dies überhaupt möglich ist.


Titelbild

Friedrich Lenger / Ansgar Nünning (Hg.): Medienereignisse der Moderne.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2008.
216 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783534203673

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