Der Mann ohne Herkunft

Zu Marlene Streeruwitz' Roman "Kreuzungen"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihren letzten Romanen "Jessica, 30" (2004) und "Entfernung" (2006) standen gebildete Frauen im Mittelpunkt, die an den Zwängen der Gesellschaft gescheitert sind. Nun hat die 58-jährige österreichische Autorin Marlene Streeruwitz einen unendlich reichen, namenlosen Mann mittleren Alters, "der nichts von seiner Herkunft gewusst hatte", ins Zentrum gerückt.

Gleich auf der ersten Seite begegnen wir der Hauptfigur beim Sex mit "kleinen Asiatinnen" und werden dadurch emotional sofort gegen den Protagonisten aufgebracht. Ein Zustand, der bis zur letzten Seite anhält und offenkundig von der Autorin auch intendiert ist.

Um Spiegelungen (dazu taugt auch der Buchumschlag), verzerrte Wahrnehmungen, gescheiterte Selbstfindungsprozesse und den stetigen Versuch, "Balance zu halten", kreisen die Gedanken des verheirateten Mannes und Vaters zweier Töchter. "Dieses Gefühl, zerrissen zu werden, begleitete ihn", und seine Frau Lilli "hatte die Gegenwart mit ihm aufgegeben." Die Ehe muss abgewickelt werden, moralische Unterstützung holt sich der Protagonist bei seiner nebulös gezeichneten Therapeutin Dr. Erlacher.

"Kreuzungen" mit Alternativrouten für den Lebensweg scheint es nicht wirklich zu geben. Zu fest zementiert ist der selbstverliebt-autoritäre Habitus. Machterhalt und Reichtumsvermehrung sind die prägenden Handlungsmotive. Das Leben wird streng nach ökonomischen Prinzipien geplant, Gefühle sind der Gewinnmaximierung untergeordnet. Der Wunsch nach Veränderung durch diverse Ortswechsel (Wien, London, Zürich, Venedig) drückt die Hilflosigkeit der Figur ebenso handfest aus, wie das Ansinnen durch Bartwuchs oder eine sündhaft teure Zahnoperation ein "anderer Mensch" werden zu wollen.

Marlene Streeruwitz erzählt diesen Roman über den Zerfall tradierter moralischer Werte in stakkatohaften, jegliche grammatische Konventionen ignorierenden, oft abrupt endenden Sätzen, die das Fragmentarische dieses Lebens, die inneren Beschädigungen widerspiegeln sollen. Diese stilistische Eigenwilligkeit ist anstrengend, bisweilen sogar störend: "Ein scharfer genauer Schmerz die rechte Schulter. Innen. Wenn er den Arm heben wollte. Vom Couchliegen kam."

Auch inhaltlich folgt man den "Kreuzungen" nicht an allen Stellen vorbehaltlos. Der Auftritt des kommunistischen Lyrikers und philosophischen Dandys Gianni während der Venedig-Stipvisite ist so stark überzeichnet, dass die Figur ins Lächerliche abdriftet. Und wenn es über die Hauptfigur heißt, "er konnte als Gustav von Aschenbach durch Venedig gehen", sucht man händeringend (aber vergeblich!) nicht nur nach dem "erlösenden" Tadzio, sondern vor allem nach der verbindenden Klammer zwischen den "Kreuzungen" und Thomas Manns "Tod in Venedig".

Die selbstquälerischen Gedanken über die Wechselwirkung zwischen Geld und Sex bestimmen die Suche nach einer adäquaten Lilli-Nachfolgerin, bei der ein renommiertes Partnerschaftsinstitut behilflich ist. Der Protagonist will sein bisheriges Leben reproduzieren, wünscht sich als Ersatz für die älter gewordenen Hetty und Netty zwei Töchter von seiner neuen Frau Francesa Fitzherbert, einer Engländerin aus gutem Haus, die allerdings nur zur künstlichen Befruchtung bereit ist.

Immer wieder stoßen wir auf kaum nachvollziehbare Paradoxien im Denken der Hauptfigur. Der Mann hat geradezu panische Angst davor, dass sein Reichtum entdeckt und publik gemacht werden könnte, und der (neue) "Ehevertrag musste in sich selbst ein Kunstwerk der Trennung sein."

Am Ende hockt er in London - weit entfernt von Lilli, Hetty, Netty, der zwielichtigen Partnerschaftsvermittlerin Zapolska und Gianni -, und es stellt sich so etwas wie ein Glücksgefühl ein: "Morgen beginne ich ein ganz neues Leben, dachte er und biss das nächste Stück von der Schokoladenbombe ab." Solche Figuren sind nicht identifikationsstiftend und taugen auch nicht als Sympathieträger. Der Versuch, ihr krauses Denken nachzuvollziehen, erweist sich schon als schwieriges Unterfangen.

Und so ist "Kreuzungen" auch kein Roman, sondern ein literarisches Monstrum von jelinekschem Kaliber, das nicht gelesen, sondern bezwungen werden will.


Titelbild

Marlene Streeruwitz: Kreuzungen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100744340

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