Von Ansatz bis Anwendung

Arne Klawitter und Michael Ostheimer haben eine Einführung in die Handhabung der Literaturtheorie verfasst

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Studenten die Angst vor trockener Theorie zu nehmen, ist eine noble Sache. Es ist nur Schade, dass man dabei mit der Angst vor allzu lockeren Hinweisen leben muss oder mit der Gefahr, gleich einem Fachverkäufer für Werkzeug dieses und jenes zu erklären. "Kommt eben darauf an, was Sie damit vorhaben."

Dabei stehen angehende Literaturwissenschaftler einer ganzen Reihe von theoretischen Ansätzen gegenüber, deren Sinn oder Unsinn sich selten schon während des Studiums zu erkennen geben wird. Wie soll man also reagieren? Die Lösung liegt möglicherweise im zwanglosen Pragmatismus.

Vorausgesetzt, es gehe darum, verborgene Inhalte "zwischen den Zeilen" zu finden: Nach einer schmissigen Diskursanalyse wissen wir, wie viel Reibung oder Konformität unser Text enthält. Erscheint es nun noch immer lohnend, beginnt die Analyse. Aber Ideologiekritik, verrät das Prospekt, ist out. Ein Blick zur Psychoanalyse könnte weiter helfen. Was anschließend mit dem eigenen Lesehorizont verknüpft werden kann, wird sich in Begriffen der Intertextualität einordnen und in einer anschließenden strukturalen Analyse mechanistisch deuten lassen. Verbleibende Unvorsichtigkeiten werden dekonstruiert und in der Perspektive des New Historicism auf ihre gesellschaftliche Verankerung hin überprüft. Die hinterher aufkommende Verzweiflung lässt sich in lebenslangem hermeneutischen Arbeiten schmälern. Sollte das auch nicht ausreichen, schnappt man sich ein paar explizite Leser und stellt sie zur Rede, um deren Antworten einer Diskursanalyse zu unterziehen.

Arne Klawitter und Michael Ostheimer haben es sich zur Aufgabe gemacht, diesem Chaos vorzubeugen. Ihr Band über Literaturtheorien und - was neu ist - ausführliche Anwendungen derselben vermittelt knapp und nachvollziehbar den Kernbestand gegenwärtigen literaturtheoretischen Wissens. Nicht aufzufinden sind explizit medientheoretische, semiotische und narratologische Ansätze, was daran liegen mag, dass entsprechende Probleme vor allem in den Passagen über Jacques Derrida, Julia Kristeva und Gérard Genette aber auch andernorts angesprochen werden.

Die Darstellung folgt im weitesten Sinne einer historischen Struktur - die zwangsläufig stellenweise aufgebrochen wird, um Interferenzen zwischen einzelnen Ansätzen (etwa Psychoanalyse und Poststrukturalismus, Diskursanalyse und Sozialgeschichte, Hermeneutik und Dekonstruktion) aufzuzeigen.

Die Frage nach dem Umgang mit der Methodenvielfalt wird in der Draufsicht beantwortet: "Unsere Vorstellung leitete ein methodologischer Funktionalismus, der nicht nach der Wahrheitsfähigkeit der methodischen Ansätze fragt, sondern danach, ob ein Ansatz überhaupt zu brauchbaren Ergebnissen kommen kann." Dieser Verwertungsaspekt des Denkens ist dann der elfte Ansatz, dem ein eigenes Kapitel nicht schlecht angestanden hätte, befasst man sich doch hier mit einem dringenden Problem der Literaturwissenschaft und dessen möglicher Lösung.

Wenn die hier eingenommene Meta-Perspektive aber ihre Erkenntnisbedingungen im Griff haben sollte, welchen Stellenwert haben dann die erfassten literaturtheoretischen Ansätze überhaupt noch? Der hintergründige Gedanke scheint zu sein, dass man den Text zunächst an einem Infoschalter sichtet und ihn dann zu einem sehr großen Regal mitnimmt, dessen Versprechen im Prospekt verlockend erscheint. Dieser Baumarkt hat sich zuweilen bereits als Apotheke erwiesen.

Die drei im Band abgedruckten Erzählungen werfen sowohl textimmanente Fragen auf als auch diskussionswürdige Punkte theoretischer Art. Ausgewählt wurde das "Tagebuch eines Verrückten" von Lu Xun (1918), "Der entwendete Brief" von Edgar Allen Poe (1844) und "Der Mann im Fahrstuhl" von Heiner Müller (1979). Damit soll ein möglichst breites Spektrum an historischen, regionalen und thematischen Aspekten abgedeckt werden. Aber auch stilistisch stecken die Modelltexte ein weites Feld von Müllers "kafkaesker" Topografie über Poes eloquentem Krimi zu Lu Xuns personaler Befindlichkeitserzählung ab. Glücklicherweise enthalten alle drei Texte leicht ersichtliche Hinweise auf ihre historische Situation und sind zumindest so offen, dass sich eine zehnfache Analyse anbietet.

Zehn Interpretationen eines Textes führen nicht zur Klarheit, schärfen aber das Problembewusstsein. Warum wird bei der intertextuellen "Interpretation" von Poes Text nur auf Zitate eingegangen, die zahlreichen Anspielungen auf naturwissenschaftliche Debatten aber überhaupt nicht als Anspielung gewertet? Was hält davon ab, zu erwähnen, dass die Zeit-Problematik in Müllers Text zwar einen Hamlet-Bezug hat, ohne diesen aber keineswegs an philosophischer Sprengkraft einbüßt? Wie reagiert man auf die sich einschleichende Politisierung der hermeneutischen Interpretation, die sich wie ein Vorwort zur sozialgeschichtlichen Deutung liest? Wie kommt eine strukturale Analyse zu der Erkenntnis, dass ein Schlips soziale Aspekte symbolisiert?

Damit erschöpft sich der Band, kann aber - und was will man mehr - gerade dadurch das Nachdenken des Lesers aktivieren, da ihm ein bloßes Abnicken nicht nahe gelegt wird. Ihr volles Potential kann diese Arbeit offensichtlich erst im Seminar entfalten.

Von der Verve eines Terry Eagleton keine Spur. Dafür entgeht man aber allzu komplizierten Darstellungen. Es bleibt hervorzuheben, dass insgesamt auf modische Bemerkungen verzichtet wurde und alles angesprochen wird, was man für eine Einführung dieser Art - soll heißen eine handwerklich orientierte - braucht. Für einen kritischen und historisch umfassenderen Durchgang empfiehlt sich - unter sehr vielen anderen - die ergänzende Lektüre von Richard Harlands ganzheitlich angelegtem Buch "Literary Theory from Plato to Barthes" und "Literary Theory" von Terry Eagleton, da hier erkenntnistheoretische und auch subjektive Anstrengungen unternommen werden, wie sie sich Klawitter und Ostheimer nicht erlauben wollten. Ingesamt also eine informative, verständliche (!) Einführung mit lange vermissten Anwendungen, die aber ihre eigene Perspektive nicht umfassend zu reflektieren sucht.


Titelbild

Arne Klawitter / Michael Ostheimer: Literaturtheorie - Ansätze und Anwendungen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
304 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783825230555

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