Schmerzhafte Gedächtnislücken

Marc Buhl stopft in "375" die Erinnerungslücken eines Stasi-Opfers

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist sehr mutig, wenn einer aus dem Westen, einem aus dem Osten ins Gehirn und Gemüt schauen möchte. Und nicht irgendeinem "normalen" Ostdeutschen, sondern einem, der wenige Monate vor der Maueröffnung in die Fänge der Stasi gerät und kurz nach dem Mauerfall wieder in die Freiheit entlassen wird. Und mit der er nach einer gründlichen Gehirnwäsche im Stasi-Knast Hohenschönhausen nichts weiter anzufangen weiß, als in den Südwesten des wiedervereinigten Deutschlands zu flüchten, eine Familie zu gründen, als erfolgreicher Antiquitätenhändler sein Geld zu verdienen und sich nach zwanzig Jahren erfolglos eine Kugel in den Kopf zu jagen, die ihn zwar nicht umbringt, ihm aber jegliche Erinnerung an sein Leben im beschaulichen Schwarzwald raubt. Die Rede ist von dem in Ost-Berlin geborenen Ingenieurstudent Paul Cremer. Erdacht und zum fiktiven Leben erweckt von dem im schwäbischen Sindelfingen zur Welt gekommenen Marc Buhl.

In seinem neuesten Roman "375" begleitet Buhl den Rekonvaleszenten bei dem schmerzhaften Prozess, seiner Vergangenheit und damit seiner eigentlichen Identität wieder auf die Spur zu kommen. Er konfrontiert ihn dabei mit dem Alltag und den Methoden der deutschen Psychiatrie, den verletzten Gefühlen seiner Ehefrau und seines siebzehnjährigen Sohnes, die beide nicht verstehen können, wieso er sich das Leben nehmen wollte. Er kann sich den Selbstmordversuch selbst nicht erklären und wartet darauf, dass die Erinnerung an die letzten zwanzig Jahre mit jedem neuen Bild und jedem neuen Wort wiederkehrt. Doch das einzige, woran er sich schrittweise zu erinnern vermag, ist die Zeit vor und kurz nach seiner Verhaftung. Es ist die Zeit, in der er mit seiner geliebten Freundin Hannah in Harmonie zusammenlebte.

Sie ist, man ahnt es leider schon nach den ersten fünfzig Seiten, der eigentliche Schlüssel zu seinem Schicksal. Nicht die Rückkehr in das Familienleben im idyllischen Schauinsland hilft seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Die Sehnsucht nach der scheinbar verloren geglaubten Geliebten schwemmt die schmerzhaften Erinnerungen an die unerträglichen Haftbedingungen und die perfiden Stasi-Verhöre wieder an die Oberfläche. Sie halten ihn nämlich unbewusst noch ebenso gefangen wie die Liebe zu Hannah. Das zwanzigjährige Intermezzo im Schwarzwald war eine lange, aber letztlich unbedeutende Episode in seinem Leben, das ganz und gar von seinen Erlebnissen als Häftling Nr. 375 geprägt wurde.

Buhl hat mit vielen Zeitzeugen aus Hohenschönhausen gesprochen. Sie werden ihm sicherlich bestätigt haben, wie unauslöschlich die Erinnerung an die Haft ist und wie unmöglich es ist, sie zu verdrängen. Er hat ihnen aufmerksam zugehört und in seinem Roman plastisch und einfühlsam beschrieben, was es heißt, bei flackerndem Licht und vorgeschriebener Liegeposition einzuschlafen. Was es heißt, von den Stasi-Offizieren mal sanfter und mal brutal angepackt zu werden. Aber er hat es leider nicht vermocht, diese leidvollen Erfahrungen in eine poetische Sprache zu übersetzen, die nicht ins Pathetisch-Melodramatische abgleitet ("Ich bin gestorben. Gestorben in Dir. Kein schöner Tod. Aber genug jetzt."). Auch für Cremers veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit findet er oftmals nur blasse Vergleiche. Etwa wenn er die Menschen wahrnimmt, wie sie "in ihrer eigenen Zeit" gehen, "die sie umgab wie eine Blase, so dass es keine Begegnung" zwischen ihm und ihnen geben konnte. Solche Passagen wirken denn auch ähnlich konstruiert wie das Happy End, dass den wirklichen Stasi-Opfern so wenig Trost bietet wie dem Leser Aufklärung.


Titelbild

Marc Buhl: Drei Sieben Fünf.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
281 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783821857824

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