An der Nadel der Erinnerung

"Paranoia": Drei Novellen von Rick Moody

Von Thorsten GräbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Gräbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rick Moody glaubt an das Wort, denn solange Menschen leben, wird es Sprache geben. In einem Aufsatz zur Verfilmung seines Romans "Der Eissturm" beschreibt der amerikanische Autor, wie wenig Dauer er anderen Erinnerungsträgern zutraut: Nach einer Atomexplosion ließen sich Computer oder digitale Videokameras allenfalls dazu gebrauchen, Türen offen zu halten. Der Wert des Wortes beschäftigt ihn bis heute, und im Schlusstext seines neuen Novellenbandes "Paranoia" taucht der Gedanke wieder auf, "alles durchs Schreiben zu bewahren".

"Die Albertine-Notizen" nennt sich dieser Text, bei dem es sich um ein Überlebenszeugnis aus der Zeit nach der großen Katastrophe handelt. Ein Anschlag mit eingeschmuggeltem Uran hat ein Drittel Manhattans zerstört, Millionen Menschen starben. Die Notizen stammen von Kevin Lee, der für ein "Titten-und-Texte-Magazin" über die Erinnerungsdroge Albertine recherchiert. Seit dem Knall breitet sich der Stoff in New York aus, weil allen das Vergangene lieber ist als die grausame Gegenwart. Einsteiger tröpfeln sich Albertine unter das Lid, Abhängige brauchen bald Spritzen.

Auch Lee nimmt die Droge. Moody macht den Erzähler damit zu einem zweifelhaften Zeugen, der dem Sog der Sucht erliegt und von seinen Recherchen nichts als Bruchstücke mitbringt. Er soll 2.500 Wörter liefern, aber wieder und wieder lässt er das Aufnahmegerät laufen, zitiert hier eine Studie zum möglichen medizinischen Nutzen von Albertine und führt dort ein wirres Interview über die Entstehung des Mittels. Die Sucht prägt den Erzähler wie den Text, dessen subjektiver Anteil allen Anspruch an Berichterstattung überlagert.

Albertine verhilft einem zwar dazu, jede Erinnerung zurückzuholen, der Trip entzieht sich aber der Kontrolle, schlechte Momente können ebenso wiedererstehen wie schöne. Oder im Schönen ist die Trauer einbegriffen. Stets umkreist Lee den Tag, als er mit einem Mädchen im Park Rum aus Pappbechern trank; nur war sie schon vergeben. Dem Trip folgt das Vergessen. Im Alltag tun sich Gedächtnislücken auf, das Gewohnte verliert an Bedeutung: "Plötzlich hattest du keinen Schimmer mehr, starrtest den Haufen Kleider vor der Kommode an, deren Farben dich faszinierten, diese alte Jeans, sehr interessant."

Im Widerstreit von Erinnerung und Vergessen geht die Zeit aus den Fugen, als es gelingt, in Erinnerungen einzugreifen und dabei die Gegenwart zu ändern. Cortez, der Meister dieser Technik, steht dem Albertine-Kartell vor, doch das Vergessen droht selbst ihm. Schließlich könnte irgendwann das Wissen um Albertine verloren gehen, und was dann? "Solange die Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Cortez' Unternehmen nicht das Lesen verlernte, solange sie irgendwo die Geschichte der Droge gespeichert hatten, war alles cool." Deshalb soll Lee für ihn arbeiten, nicht für das Magazin.

Cortez und seine Leute rekrutieren Lee, weil Erinnerung Macht bedeutet. Sein Schreiben begann hingegen mit dem Mädchen im Park, sie wollte er bewahren. Im schreibenden Erzähler von "Die Albertine-Notizen" setzt sich die These vom Wert des Wortes fort. Für Moody ist es die stärkste Erinnerungsdroge, die wir haben.

Sicher schwächelt "Die Albertine-Notizen" ab und an, etwa hätte Moody eine akademische Widerstandsgruppe nicht als Karikatur der Kabalen im Universitätsbetrieb zeichnen müssen, was so gar nicht in den Text passen will. Insgesamt überzeugt jedoch, wie er Kevin Lee als unsicheren Gewährsmann anlegt, gerade weil sich Rausch und Realität nicht scheiden lassen und die von Albertine beschädigte Zeit die Erzählweise bestimmt.

Leider ist das nicht die einzige Geschichte in "Paranoia". Mit "Omega Force" beginnt der Band schwach. Ein pensionierter Washingtoner Bürokrat warnt darin vor "dunkel gehäuteten" Gestalten, die seine Sommerfrische auf einer Insel vor Connecticut stören. Damit nicht genug, sie gefährden das Land, immerhin wurden sie am Flugplatz gesehen. Der Kniff der Novelle soll wohl sein, dass der Erzähler, ein inselweit berüchtigter Alkoholiker, einen Schundroman über die Verschwörergruppe Omega Force als Schlüsseltext zur nationalen Sicherheit liest.

Den Autor des Buches erklärt er kurzerhand zum "hochrangigen Regierungsexperten für Terrorbekämpfung". Dessen "Bericht" zufolge wartete Omega Force "auf den Hurrikan, wartete auf den Schneesturm, auf den Krieg, der anderswo ausbrach, auf starke Schwankungen am Börsenmarkt, auf den Super Bowl, auf die nationalen oder religiösen Feiertage, auf den Mordanschlag, auf jede Art von Bewegung oder Schwäche." Eine vage Furcht entwickelt sich zur fixen Idee, bis der Rentner selbst seiner Frau misstraut. Übersteigert und verdichtet hätte daraus ein galliger Kommentar zu amerikanischen Ängsten und ihren Folgen entstehen können, für ganze elf Kapitel taugt das kaum.

Die zweite Novelle mit dem Titel "K & K" krankt am gleichen Missverhältnis von Gehalt und Umfang. Moody zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben einer Büroleiterin einer kleinen Versicherungsagentur, zeigt Einsamkeit und Verzweiflung und die verrückten Dinge, zu denen Einsamkeit und Verzweiflung Menschen bringen. Er braucht fünfzig Seiten. Die Marke für Stoffe wie diesen setzt indes die Künstlerin und Filmemacherin Miranda July mit ihrem jüngst erschienenen Debüt "Zehn Wahrheiten". An ihre oft knappen, immer gewitzten Erzählungen reicht "K & K" nicht heran.

Die ersten beiden Novellen in "Paranoia" wären besser Kurzgeschichten geworden, so hebt sich bloß "Die Albertine-Notizen" ab. Doch wer hält bis dahin durch?


Titelbild

Rick Moody: Paranoia.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke.
Piper Verlag, München 2008.
245 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783492051521

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