Poesie und Politik im Überblick

Dieter Lampings kurze Geschichte der politischen Lyrik

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bertolt Brecht, Pablo Neruda, Peter Huchel und Hans Magnus Enzensberger stehen im Mittelpunkt der kurzen Geschichte der politischen Lyrik, die Dieter Lamping, aufbauend auf etlichen bereits publizierten Arbeiten, in seinem jüngsten Buch präsentiert: eine konzise, methodisch wie stilistisch souveräne (wenn auch nicht alle Aspekte des Spektrums umfassende) Einführung in die Entwicklung des komplizierten Zusammen- und Gegeneinander-Spiels von Poesie und Politik seit 1945.

Gegen eine allzu enge Festschreibung dessen, was als engagierte Literatur gelten dürfe oder sogar kanonisiert werden könnte, gegen alle Unternehmungen, politische Lyrik ausschließlich thematisch zu bestimmen, schlägt Lamping die folgende Definition vor: "Lyrik ist politisch entweder durch ihre Thematik oder durch ihre Perspektive auf ein Thema." Er verfolgt glänzende und tragische Karrieren, er blickt zurück auf signifikante Debatten über die Rolle der Lyrik in der Gesellschaft (Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno, Enzensberger; Würdigungen des großen Prüfsteins Ezra Pound), und er kommt zum Schluss, dass alles dafür spreche, von "der literarischen Diversität politischer Lyrik" auszugehen und dabei drei Typen herauszuheben: "die Poesie der großen Politik, die politische Poesie des Unpolitischen und die politik-kritische Poesie". Diese drei Typen entsprechen, so Lamping, den drei wichtigsten Phasen der Entwicklung der politischen Lyrik nach 1945, sie gehen hin und wieder, spätestens seit den 1980er-Jahren ineinander über und sind mitunter auch im Gesamtwerk einzelner Autorinnen und Autoren auszumachen.

Der Blick auf die Diversität schärft nicht zuletzt den Blick auf die Bedeutungsspielräume der politischen Lyrik. Wo immer er Beispiele hervorhebt und bespricht, verweist Lamping auf divergente Interpretationsmöglichkeiten, die in den Strukturen der Texte oder auch in den Standorten der Leserinnen und Leser begründet sind; das gilt für vielzitierte Texte, wie Paul Celans "Todesfuge" oder Günter Eichs "Inventur", ebenso wie für jene Gedichte, die in dieser Darstellung vielleicht zum ersten Mal eine adäquate Würdigung erfahren. Schwerpunkte der Darstellung sind die Nachkriegs- und Holocaust-Lyrik, die Dissidentenlyrik und die staatstragende Lyrik in der DDR, die Vietnamlyrik und Literatur der Studentenbewegung, schließlich die Lyrik der 1980er- und 1990er-Jahre. Der Ausblick auf Gedichte über den 11. September 2001 und den Irak-Krieg zeigt, dass die Phase der agitatorischen Zeitgedichte, wie sie Brecht und Neruda, auch noch Wolf Biermann oder Alfred Andersch forciert haben, vielfach abgelöst wird durch poetische Erkundungen der Wirklichkeit, die sich von dezidiert partei-politischen Stellungnahmen unmissverständlich abgrenzen. Die Abkehr von der Poesie der großen Politik, die sich schon im Spätwerk von Eugenio Montale und Peter Rühmkorf abgezeichnet hat, ist auch in Enzensbergers Gedicht "Unpolitische Vorlieben" thematisiert, das neue Verhältnis der Poesie zur Politik spiegelt sich in Bob Dylans Album "Oh Mercy" ebenso wie in den Gedichten von Wislawa Szymborska oder in den einschlägigen Reflexionen von Michael Hamburger.

Im Hinblick auf weitere Auflagen, die diesem Buch zu wünschen sind, wäre zu korrigieren: Georg Trakl ist nicht "drei Monate" nach der Schlacht von Grodek/Rawa-Ruska, sondern am 3.11.1914 verstorben, und in seinem Gedicht "Grodek" ist nicht von einem "Wiesengrund", sondern von einem "Weidengrund" die Rede. - Zu bedenken aber wäre, dass ein Blick auf die politische Lyrik in Österreich und in der Schweiz, beispielsweise auf Ernst Jandl und Kurt Marti, um zunächst nur zwei Namen noch ins Spiel zu bringen, und eine Auseinandersetzung mit den Gedichten von Adelbert von Chamissos Enkelinnen, wie etwa Dragica Rajcic oder Zehra Çirak - noch viele mehr wären hier zu nennen - auch in einer kurzen Geschichte der (deutschsprachigen) politischen Poesie nicht länger fehlen dürften.


Titelbild

Dieter Lamping: Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
143 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783525208595

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