Weibliches Geschlecht und Geschlechtslosigkeit der Männer
Rebekka Habermas revidiert am Beispiel einer Familiengeschichte die historische Bürgertums- und Geschlechterforschung
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Buch verdankt sich einem Glücksfall: einem Fund von Quellen zur Geschichte einer Familie, wie sie umfassender und ergiebiger kaum sein könnten. Was Rebekka Habermas im Stadtarchiv Nürnberg im Nachlass einer bürgerlichen Familie namens Merkel entdeckt und gründlich untersucht hat, erlaubt exemplarische und höchst anschauliche Einblicke in die Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Bürgertums um 1800. Sie sind dazu geeignet, etablierte Vorstellungen der jüngeren Familien- und Geschlechterforschung zu revidieren.
Wie sehr Familienforschung und Gender-Studien aufeinander angewiesen sind, weiß man spätestens seit dem einflussreichen Aufsatz von Karin Hausen, der 1976 in einem Sammelband zur Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas erschien. Der Titel enthielt bereits die Essenz der Thesen: Die Polarisierung der 'Geschlechtscharaktere' - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. Die sich im späten 18. Jahrhundert weit verbreitende und bis heute fortwirkende Vorstellung von der rationalen, würdigen, aktiven und zielgerichteten, gegebenenfalls sogar gewalttätigen 'Natur' des Mannes gründete nach Hausen im historischen Wandel der Groß- zur Kleinfamilie. Sie entsprach den Anforderungen des aus der Familie ausgelagerten, öffentlichen Erwerbslebens. Das Bild der eher passiven, bescheidenen, anpassungsbereiten, gütigen, gefühlvollen und anmutigen 'Natur' der Frau wiederum, stützte die ihr nun zugewiesenen Rolle im privaten Bereich des Familienlebens.
Diese Beschreibung und familienhistorische Begründung polarisierter Gesschlechtscharaktere fanden in den Literatur- und Kulturwissenschaften weite Verbreitung, blieben allerdings nicht unumstritten. Hausen selbst betonte später, daß "eine Frau und ein Mann in ihrer Ehe immer auch versuchen, ihre ureigensten Bedürfnisse und Wünsche auszugestalten, und danach trachten, dabei die normativen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Ehe wo immer möglich als Gestaltungschancen zu nutzen." Rebekka Habermas zitiert diese Einsicht und fügt sie in eine Argumentation ein, die manchem Konsens der Familien- und Geschlechterforschung widerstreitet. Die beliebte "These von der Emotionalisierung des familiären Lebens" zum Beispiel, und zwar sowohl der Eltern-Kind- als auch der ehelichen Beziehung, die Meinung, dass bei der Eheschließung "Liebe und materielle Interessen einen Widerspruch darstellen müssen", die "Vorstellung, daß das eheliche Verhältnis einer Beziehung zwischen Oberhaupt und Untertan glich", und schließlich die Rede "von einer Trennung weiblicher und männlicher Räume" - alles das deklariert Rebekka Habermas als revisionsbedürftig. Sie schreibt es einer insbesondere innerhalb der deutschen Forschung weit verbreiteten Neigung zu, ideologische Leitbilder mit "faktischer Lebensführung" gleichzusetzen: "Es ist ein nicht nur in der Bürgertumsforschung verbreiteter Fehler, die Diskrepanz zwischen Normen, Werten sowie Selbstdefinitionen und den tatsächlichen Praktiken außen vor zu lassen, statt sie zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Dieses Manko verstellte den Blick für die Tatsache, daß Normen und Werte in einem aktiven Aneignungsprozeß durch die historischen Akteure und Akteurinnen umgesetzt und nicht bloß appliziert werden, und birgt die Gefahr, Werte und Normen mit Praktiken gleichzusetzen."
Eines der Beispiele, die Rebekka Habermas dafür anführt, wie irreführend die "Gleichsetzung von Einstellungen und Praktiken sein kann", bezieht sich auf die damals für männliche Bürger geltenden Leistungsnormen und das für Frauen des gehobenen Bürgertums geltende Ideal der "müßiggängerischen Dame". Obwohl zwei Männer aus dem Umkreis der Familie Merkel einen religiös gefärbten Leistungsbegriff ständig im Munde führten, bieten sie "bei einer Arbeitsbelastung, die selten sechs Stunden täglich überstieg, im Gegensatz zu ihren Frauen, die wesentlich mehr arbeiteten, ein gutes Beispiel für die beträchtliche Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Praktiken."
Die anschaulichen Darstellungen des Arbeitsalltags, der Formen der Geselligkeit sowie des Familien- und Ehelebens zwischen 1750 und 1850 gehen in dieser Arbeit auf so reizvolle wie erhellende Weise mit theoretischen und methodologischen Reflexionen zu jüngeren Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft und insbesondere auch in der Geschlechterforschung einher.
Die "Untersuchung der bürgerlichen Geschlechterordnung" ist ein die Arbeit ausdrücklich leitendes Erkenntnisinteresse. Es verbindet sich mit einer entschiedenen Kritik der sozialgeschichtlichen Bürgertumsforschung. Denn diese neigte dazu, "das männliche Geschlecht als allgemeines Geschlecht zu definieren und damit das weibliche gänzlich aus dem Blick zu verlieren und das männliche in seiner Geschlechtsspezifität zu übersehen." Implizit suggerierte sie, "daß Frauen nicht Teil der 'allgemeinen Geschichte' und Männer geschlechtslose Wesen sind." In jüngerer Zeit etablierte sich zwar auch eine frauengeschichtliche Bürgertumsforschung, doch schrieb diese die Vorstellung vom männlichen Geschlecht als dem allgemeinen Geschlecht insofern fort, als auch sie nur Frauen unter der Kategorie "Geschlecht" untersuchte.
Entschieden postuliert Habermas eine Perspektive, die beide Geschlechter gleichermaßen im Blick hat. Die Beschränkung auf Frauenforschung hat zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt, die Habermas gleichermaßen kritisiert: "Ein Teil der Frauenforschungen zum Bürgertum versteht das Verhältnis von Frauen zur 'allgemeinen Geschichte' als eines der Unterdrückung. [...] Hier erscheinen Frauen nicht als Akteurinnen, sondern werden auf den Status wehrloser Opfer reduziert, die weder über die Kraft noch über die Phantasie verfügten, diesen Denkgebäuden etwas entgegenzusetzen. Indirekt wird damit die nicht erst seit der Zeit bürgerlicher Meisterdenker gängige Definition des weiblichen Charakters als eines passiven fortgeschrieben und das Verhältnis von Frauen zur 'allgemeinen Geschichte' als eine Einbahnstraße des Leides definiert." Dem stand eine andere, jüngere Fraktion in der Frauenforschung gegenüber, die weniger den Fragen der Diskriminierung nachging als vielmehr untersuchte, "wie Frauen ihre Lebenssphäre gestalteten, indem sie etwa die Innenräume, auf die sie in bürgerlichen Kreisen zurückgedrängt worden waren, in Rückzugsräume einer selbstbewußten 'female culture' verwandelten." Hier wird das weibliche Geschlecht als dasjenige beschrieben, "welches indirekt bestehende Machtverhältnisse unterlief, indem es sich mit 'Listen der Ohnmacht' zur Wehr setzte, ohne zu offenem Widerspruch herauszufordern."
In beiden Fraktionen, so kritisiert die Arbeit, wird "die Kategorie Geschlecht nach wie vor fast ausschließlich für ein Geschlecht in Anschlag gebracht [...], während das andere in seiner geschlechtsspezifischen Verfaßtheit selten thematisiert wird." Die Forderung von Rebekka Habermas, Geschlecht' als "relationale Kategorie zu verstehen, die sich in einem stetigen Prozess der Veränderung befindet", bleibt kein bloßes Postulat. Es wird in der Beschreibung und Analyse der Familie Merkel konsequent eingelöst. Die Ergebnisse müssen der künftigen Bürgertums-, Familien- und Geschlechterforschung zu denken geben.
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