Kafkas Prozeß, Proceß, Process oder Prozess?

Kurze Hinweise zum langjährigen Irrwitz der Editionsphilologie

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fünfundsechzig Jahre lang war es selbstverständlich, den Titel von Kafkas bekanntestem Romanfragment so zu schreiben, wie es den geltenden Regeln der Rechtschreibung entsprach und wie Kafkas Nachlassverwalter Max Brod es wollte: "Der Prozeß". Dann erschien 1990 im Rahmen der Kritischen Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlages "Der Proceß", ediert von Malcolm Pasley. Jeder gewissenhafte Germanist, der signalisieren wollte, dass er über den neuesten Stand der Kafka-Philologie informiert ist, schrieb hinfort den Titel mit "c" und markierte damit den feinen Unterschied zwischen laienhaften und professionellen Kafka-Lesern.

Doch sieben Jahre später kam aus dem Verlag Stroemfeld der erste Band der Historisch-kritischen Franz-Kafka-Ausgabe von Roland Reuß - unter dem Titel "Der Process". Seither verweist der kleine Unterschied zwischen "ß" und "ss" auf Fronten zwischen den Philologen selbst. Der Kafka-Spezialist Hartmut Binder folgt in seiner jüngsten Lebenschronik mit Bildern zu "Kafkas Welt" der Version von Reuß und hat das schon 2004 in seinem sechshundert Seiten dicken Buch über "Die Verwandlung" begründet. Klaus Wagenbach hält noch 2008 in der Überarbeitung seines Kafka-Bildbandes am "Prozeß" fest. Der Kafka-Biograf Peter-André Alt wiederum schließt sich der Titel-Version von Malcolm Pasley an. Ebenso das neue "Kafka-Handbuch", das Bettina von Jagow und Oliver Jahraus herausgegeben haben. Sogar dort, wo die Verfasser der Handbuchbeiträge ausdrücklich auf die Ausgabe von Brod verweisen, schreiben sie vom "Proceß"-Roman.

Und Rainer Stach, der sich das biografische Schreiben über Kafka zur Lebensaufgabe gemacht hat? Auf den 1.400 Seiten seiner bislang erschienenen Bände sind alle Kafka-Titel in Kapitälchen gedruckt. Und weil es da kein "ß" gibt, lesen wir hier "DER PROCESS". Allenfalls das Register lässt eine Entscheidung erkennen. Hier steht, der Kritischen Ausgabe seines Verlages treu bleibend, "Der Proceß". Auf der von Stach konzipierten Webseite www.franzkafka.de hat man sich jedoch inzwischen zu "Der Process" umentschieden.

Nun sorgt im Jahr von Kafkas 125. Geburtstag eine neue Veröffentlichung für weitere Verwirrungen: der von Roland Reuß mit einem Nachwort versehene Faksimilenachdruck jener von Max Brod 1925 aus dem Nachlass herausgegebenen Romanausgabe, die Kafkas Weltruhm begründete. Im Romantext steht überall, wo davon die Rede ist, "Prozeß", im Nachwort Brods ebenfalls, aber auf dem Buchumschlag und auf den Titelseiten setzt sich die Ästhetik des Verlags Die Schmiede und des Graphikers Georg Salter durch. Sie ersetzten das "ß" durch "ss". Damit hat Roland Reuß im eigenen Nachwort seine philologische Not. Gleich auf der ersten Seite sieht sich der Leser mit "Prozess", "Prozeß" und "Process" konfrontiert.

Was dem Laien irrwitzig erscheinen mag, hat freilich professionelle Methode. Im Falle eines bedeutenden Autors ist dem Editionsphilologen in theologischer Tradition jedes Schriftzeichen heilig, zuweilen heiliger als dem Autor selbst. Die gute Absicht von Reuß ist einigermaßen erkennbar, wenn auch in der Konsequenz nicht immer nachvollziehbar. Mal zitiert er den Buchumschlag, mal Max Brod, mal Kafkas Handschrift. Und in dieser steht durchgehend "Process". Dass die Kritische Kafka-Ausgabe bei S. Fischer, die erklärtermaßen ebenfalls den Charakter der Handschrift bewahren wollte, die Version "Proceß" bietet, basiert auf der Inkonsequenz einiger Eingriffe, die Pasley damals legitim fand. An erster Stelle seiner Liste der "stillschweigenden" Normalisierungen steht: "Ersetzung der (im Manuskript durchgehenden) ss-Schreibung durch ß, wo dies der heutigen Regelung entspricht". Kafka selbst hatte bei der Drucklegung seiner zu Lebzeiten erschienenen Erzählungen gegen derartige Ersetzungen nichts einzuwenden. Man kann das unter anderem an den von Reuß und Peter Staengle edierten "Oxforder Oktavheft 1 & 2" erkennen. Den Faksimiles der Handschriften sind hier die Textfassungen der Erstdrucke und der Faksimilenachdruck der Erstausgabe von "Ein Landarzt" beigefügt.

Pasleys Pech war es, dass sich die Regelung der Rechtschreibung schon bald änderte. Hinsichtlich der ss-Schreibung hätte sich Kafka dieser Änderung gewiss nicht widersetzt - so wenig wie schon damals der Ersetzung von "c" durch "z". Mal schrieb er "Policist", mal "Polizist". Dass aus der handschriftlichen "Cigarre" beim Druck der "Verwandlung" eine "Zigarre" wurde, hat ihn nicht gestört. Autoren sind bei aller Eigenwilligkeit ihren Verlagen und Lesern gegenüber meist kompromissbereiter und freundlicher als ihre wissenschaftlichen Editoren. Bei allen Einsichten in die Fehler, die der Schriftsteller Max Brod bei seinen Editionen seinerzeit gemacht haben mag, und bei allem Respekt vor den wissenschaftlichen Leistungen späterer Kafka-Philologen, deren Wert für die Literaturwissenschaft unbestreitbar ist, lautet mein Plädoyer: Schreiben wir wie Wagenbach, wenn wir den alten Rechtschreiberegeln folgen, "Der Prozeß", wenn wir uns an den neuen orientieren, jedoch "Der Prozess". Alles andere ist philologischer Manierismus und nur in spezialisierten Forschungszusammenhängen sinnvoll. Durchaus verständlich erscheint es da, wenn der Suhrkamp Verlag jetzt in seiner Reihe "Quarto" eine Ausgabe "Sämtlicher Werke" Kafkas präsentiert, die beim Abdruck des "Prozeß"-Romans auf die Ausgabe von Max Brod zurückgreift. Das ist, wie auch das Nachwort von Peter Höfele dazu, ausgesprochen publikumsfreundlich, macht es sich aber doch zu einfach. Wünschen wir uns neben den wichtigen Spezialisten mindestens ebenso notwendige Editoren, die, wie Max Brod damals, den Mut haben, auch an solche Leser zu denken, die keine Philologen sind, und zugleich dem philologischen Erkenntnisfortschritt Rechnung tragen. Einen Schritt in diese Richtung hat Dieter Lamping zusammen mit Sandra Poppe inzwischen mit einer übersichtlich zusammengestellten, kenntnisreich, instruktiv und für jedermann verständlich kommentierten Kafka-Ausgabe in zwei Bänden gemacht. Sie sind damit nur noch nicht weit genug gegangen, weil sie die Textfassungen der Kritischen Ausgabe aus dem S. Fischer Verlag unverändert übernommen haben. So lesen wir hier immer noch den mittlerweile wirklich nicht mehr akzeptablen Titel "Der Proceß".

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel ist unter einer anderen Überschrift und in einer gekürzten Version zuerst in der F.A.Z. vom 10.9.2008 erschienen.


Titelbild

Hartmut Binder: Kafkas „Verwandlung“. Entstehung, Deutung, Wirkung.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. und Basel 2004.
590 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3878778554
ISBN-13: 9783878778554

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Franz Kafka: Oxforder Oktavheft 1 & 2. Faksimile-Edition. 2 Bände, zusammen mit Franz Kafka-Hefte 5 und DVD. Beigelegt: Franz Kafka "Ein Landarzt" (Faksimile der Erstausgabe im Kurt Wolff-Verlag 1919).
Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
322 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-10: 3878779380

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Franz Kafka: Der Prozess. Faksimilenachdruck der Erstausgabe von 1925.
Herausgegeben und eingeleitet von Roland Reuß.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. und Basel 2008.
227 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783878775003

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Franz Kafka: Die Erzählungen. Gesammelte Werke Band 2.
Herausgegeben von Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2008.
800 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783538063334

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Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
256 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783803136251

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Oliver Jahraus / Bettina von Jagow (Hg.): Kafka Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
576 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783525208526

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Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
688 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783498006433

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Franz Kafka: Romane. Der Proceß. Das Schloß. Der Verschollene. Gesammelte Werke, Band 1.
Herausgegeben von Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2008.
1040 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783538054530

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Titelbild

Franz Kafka: Sämtliche Werke.
Mit einem Nachwort von Peter Höfle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
1280 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420010

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