Warum überhaupt moralisch sein?

Dagmar Fenners Einführung in die Ethik

Von Meike SteigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Steiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist von einer Einführung in die Ethik zu erwarten? Die in Basel und Tübingen lehrende Philosophin Dagmar Fenner verspricht in der Einleitung ihres neuen Buches, dass der philosophisch interessierte Leser - an den sich das Lehrbuch aus der neuen UTB-Reihe "basics" richtet - hier nicht nur kritisch über verschiedene theoretische Modelle aus der Moralphilosophie informiert wird, sondern dass er damit auch zu einer Schärfung seines moralischen Urteilsvermögens in der eigenen Lebenswelt gelangt. Kombiniert werden also theoretischer Anspruch und praktische Anwendung. Diese Kombination legt das Wesen des Themas Ethik an sich nahe, zudem liefert auch die philosophische Tradition mit ihren einschlägigen moralischen Dilemmata dafür zahlreiche Beispiele. Zu Kants Problem, ob eine Notlüge legitim ist, um einen unschuldigen Freund zu retten, muss jede ihm folgende Moralphilosophie Stellung nehmen und so bezieht auch Fenner in ihrem Buch zu dieser Fragestellung Position.

Die Autorin stellt systematisch und in breiter Streuung verschiedene zeitgenössische und traditionelle ethische Konzepte vor und fügt intelligent verschiedene kritische Einwände gegen die einzelnen Modelle an. Sowohl die zeitgenössische Philosophie wird umfassend durch Autoren wie Alan Gewirth, Jürgen Habermas, Richard Hare und John Rawls repräsentiert, als auch die traditionellen philosophischen Ansätze von Aristoteles über Thomas Hobbes und John Stuart Mill bis Immanuel Kant. Der Leser des Lehrbuchs wird hier kompetent durch die einzelnen ethischen Modelle geführt und kann sich, wenn er will, mittels der zitierten Originalstellen selbst in die entsprechenden einschlägigen Texte und relevanten Passagen vertiefen. Insgesamt ist eine Präferenz Fenners für die systematisch-analytisch orientierte Moralphilosophie festzustellen, sei es die zeitgenössische oder die traditionelle. Dabei unterläuft ihr gelegentlich eine Überbetonung der sich als streng wissenschaftlich verstehenden Forschungszweige: So wird von ihr als ein Beispiel die banale Tatsache, dass "emotive psychophysische Reaktionen gemäß neueren emotionspsychologischen Erkenntnissen immer Begleiterscheinungen kognitiver Einschätzungen" sind, sowohl theoretisch als auch begrifflich frisiert, wohl um das an Gewicht in die Waagschale zu legen, was der pure Erkenntnisfortschritt hier nicht aufbieten kann. Der Vorzug, den Fenner den analytisch arbeitenden Autoren gibt, wird ex negativo deutlich, wenn es über einen platonischen Text leise rügend heißt, dass Sokrates statt einer "klaren und konzisen Antwort [...] ein weit ausholendes, vielschichtiges Gespräch" zur Beantwortung ethischer Probleme wählt. Welche Funktion die dialogische Gesprächsführung Sokrates' gerade auch innerhalb einer "moralischen Erziehung" hat, kommt bei ihr aber leider nicht zur Sprache.

Neben der Einführung in moralphilosophische Konzepte werden nicht nur der philosophischen Ethik zugehörige Begriffe, wie deontologische versus teleologische Ethik oder Individual- versus Moralphilosophie, eingeführt, sondern auf einer basalen Ebene auch Grundbegriffe und -konzepte der Philosophie, wie etwa der Unterschied eines induktiven und eines deduktiven Vorgehens oder einer historischen und einer systematischen Darstellung, vorgestellt. Fenner weist dabei aber nicht darauf hin, dass es sich bei ihren Begriffsdefinitionen - beispielsweise der Differenzierung zwischen Ethik und Moral - um Setzungen handelt, denen ein gewisse Relativität anhaftet. So heißt es bei ihr beispielsweise, dass sich eine bestimmte Unterscheidung - nämlich die zwischen einer prudentiellen und einer moralischen Perspektive innerhalb der normativen Ethik - "eingebürgert" habe, ohne dass Autoren genannt werden, die diese Unterscheidung verwenden, oder auf ihre Diskutierbarkeit Bezug genommen wird.

Damit ist eine Tendenz angedeutet, die sich an verschiedenen Punkten dieser Einführung manifestiert: Es geht offenbar um fixiertes Wissen, das in dieser Form gelernt und entsprechend abgerufen werden kann. Dazu gehört auch, dass Fenner eine systematische (statt einer historischen) Darstellung der philosophischen Konzepte zur Ethik ankündigt, allerdings ohne dass dem Leser im Verlauf des Buches klar geworden wäre, worin hier die Systematik besteht. Zwar beginnt die Autorin ihre Darstellung ethischer Modelle, indem sie zunächst zwei Richtungen, nämlich Nonkognitivismus und Kognitivismus, ausmacht, aber dann wechselt Fenner die Ordnung, indem sie im nächsten Abschnitt einzelne normative Prinzipien (Leben, Freiheit, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit) bespricht, um abschließend unter der Überschrift "Ethik für die reine Vernunft?" auf die emotionalen, charakterlichen und entwicklungspsychologischen Komponenten ethischen Handelns einzugehen.

Dass es hier systematisch zugehen soll, wird dem Leser zudem über die Zusammenfassungen zu Beginn jedes Kapitels, die Begriffsdefinitionen in blau unterlegten Boxen, die Visualisierungen durch Schemata und das Glossar mit der Erklärung wichtiger Fachbegriffe am Ende des Buches signalisiert. Genau mit dieser Vorgehensweise ("Leichter lernen mit System") wirbt die neue Reihe "UTB basics" dann auch im Klappentext, um - so drängt sich einem der Eindruck auf - bei den neuen Bachelor-Studierenden, die nicht mehr die Muße haben, ein Semester Platon im Original zu studieren, sondern sich schnell ein (in Prüfungen) verfügbares Wissen aneignen müssen, Interesse zu wecken. Hierzu sind sicher auch die Übungsaufgaben nach jedem Kapitel im Buch hilfreich, die im Anhang aufgelöst werden.

Zu erwarten ist aber von einer Einführung in eine philosophische Disziplin, dass sie nicht nur kompetent und umfassend verschiedene philosophische Modelle vorstellt und kritisiert - also fixiertes Wissen zur Verfügung stellt -, wie es hier vorbildlich geschieht, sondern dass sie auch Lust macht aufs Philosophieren als Nachdenken über ein Frage und deren mögliche Antworten. Um spannend zu sein und das (Nach)Denken beim Leser zu initiieren, fehlt Fenners Buch die Verbindung der verschiedenen vorgestellten Modelle untereinander in Bezug auf eine Problemstellung. Dies geschieht einmal, wenn Fenner kontrovers die Frage "Warum überhaupt moralisch sein?" diskutiert. Der Leser wird hier nicht mit wohl definierten und systematisch geordneten Antworten versorgt, sondern in einen spannenden, weil offenen Dialog mit verschiedenen Philosophen versetzt, die mehr oder weniger überzeugend auf dieses Grundproblem der philosophischen Ethik geantwortet haben.


Titelbild

Dagmar Fenner: Ethik. Wie soll ich handeln?
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2008.
244 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783825229894

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