Das Tribschener Idyll in Prosa

Dieter Borchmeyer schreibt über seine langjährige Beschäftigung mit Nietzsche, Cosima und Richard Wagner

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder für sich ist auf seine Weise ein kulturhistorisches Schwergewicht; alle drei zusammen bilden ein Dreigestirn, das in der deutschen Geistesgeschichte seinesgleichen sucht. Die Rede ist von Richard und Cosima Wagner, die während ihrer Zeit im schweizerischen Tribschen (1869-1872) enge Beziehungen zu Friedrich Nietzsche pflegten, die diesen für den Rest seines Lebens nachhaltig prägen sollten.

25 Jahre ist Nietzsche alt, als er zunächst dem 56-jährigen Richard und dann der 32-jährigen Cosima begegnet. Eine merkwürdige Familienkonstellation beginnt sich zu entwickeln, die so weit geht, dass Wagner in Nietzsche das Bindeglied zu Siegfried sieht, der 1869 als einziger Sohn seiner noch unverheirateten Eltern in Tribschen geboren wird.

Doch bevor es dazu kommen kann, entfremden sich die Tribschener Freunde wieder, langsam und schleichend, aufgrund disparater Weiterentwicklungen und ohne dass es zu einem wirklich abrupten Bruch kommt. Zwar lassen sich aus der Retrospektive einige wenige Stationen dieser Entfremdung ausmachen, doch die sind eher sicht- und spürbare Ergebnisse von Prozessen als aus heiterem Himmel aufgetretene Entzweiungsgründe. Und auch Nietzsches 'tödliche Beleidigung', die er selbst nach Wagners Tod als Grund für das Zerwürfnis nennt, scheint doch seltsam konstruiert in der Rückschau eines Mannes, dessen Erinnerungen umso mehr von den stattgehabten Ereignissen abweichen, je länger diese her sind.

Die folgenreichen Begegnungen und wechselseitigen, bis in die jeweiligen Kunstproduktionen hineinreichenden Beziehungen zwischen Nietzsche und Wagner werden dennoch bereits von Zeitgenossen analysiert und kommentiert. Nach Wagners Tod, aber noch zu Nietzsches Lebzeiten (1890) erscheint die erste diesbezügliche Publikation, und die um Cosima erweiterte Konstellation wird zwei Jahrzehnte später (1912), also noch zu Lebzeiten Cosimas, erstmals porträtiert.

Bis zum zweiten Weltkrieg entstehen noch weitere Publikationen, danach folgt eine lange Pause, bis Dieter Borchmeyer 1983 mit einer Arbeit zu Nietzsches "Der Fall Wagner" den Faden wieder aufnimmt und in den folgenden Jahren und Jahrzehnten selbst eine Reihe richtungsweisender Veröffentlichungen beisteuert, darunter die Edition ausgewählter Schriften des ersten Wagner-Enkels (Franz Wilhelm Beidler: "Cosima Wagner-Liszt. Der Weg zum Wagner-Mythos." Bielefeld 1997).

So verwundert es nicht, dass er sich in der vorliegenden Darstellung zu einem nicht unerheblichen Teil auf eigene Arbeiten stützt. An erster Stelle steht dabei die zusammen mit Jörg Salaquarda herausgegebene, zweibändige Quellendokumentation ("Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung." Frankfurt am Main und Leipzig 1994), die sich längst zum Grundlagenwerk für die Beschäftigung mit der Beziehung der beiden Männer entwickelt hat. Cosima als Dritte im Bunde erscheint bei Borchmeyer erstmals in einer (in der vorliegenden Ausgabe nicht erwähnten) szenischen Lesung, die 1996 in Heidelberg aufgeführt und 1998 als Textcollage aus Schriften, Dichtungen und anderen Aufzeichnungen unter dem Titel "Das Tribschener Idyll. Nietzsche - Cosima - Wagner" erschienen ist. Das 23-seitige Nachwort des Verfassers in diesem Buch, das den Verlauf der Beziehungen zwischen Nietzsche und den Wagners skizziert, bildet das chronologische und inhaltliche Gerüst für die jetzt neu erschienene, ausführliche Darstellung dieser kulturhistorisch so vielschichtigen Begegnung.

Die nun erfolgte 'Erweiterung des Nachworts' um 160 Seiten bringt zwar erwartungsgemäß wenig grundlegend Neues, was die grundsätzlichen Merkmale dieser Dreierbeziehung angeht, geht aber zuweilen sehr in die Tiefe und bringt unzählige Details zum Vorschein. Dabei werden vor allem Nietzsches Innenleben, die Diskrepanzen zwischen seinem 'Innen' und 'Außen', zwischen seinem 'Früher' und 'Später', weiter konturiert. Ebenso hinzugekommen sind zahlreiche Erläuterungen, Kommentare, Anmerkungen und Exkurse biografischer, kulturgeschichtlicher und auch werkinterpretatorischer Natur.

Nicht das was - die sehr ungewöhnliche Beziehung dreier Persönlichkeiten - steht dabei im Vordergrund, sondern das wie, nämlich die Frage, wie das, was belegbar oder nachweisbar ist, geworden ist oder geworden sein könnte, als was es sich darstellt oder was es zu sein scheint. Dabei ist der Verfasser seinem eigenen Anspruch, ohne Spekulationen und Wertungen auszukommen, durchgehend gerecht geworden.

Im Vordergrund steht zweifellos die Person Nietzsches. Immer wieder werden dessen innere wie äußere Haltung seit seiner ersten Begegnung mit Wagner (1868) bis zu den kurz vor seinem paralytischen Zusammenbruch entstandenen 'Wahnsinnsbillets' (1899) skizziert, erläutert und belegt. Richard Wagner, der Dreh- und Angelpunkt von Nietzsches gedanklicher Auseinandersetzung, bleibt dabei zumeist ungewohnt bescheiden und verhalten im Hintergrund und auch Gattin Cosima blickt nur hin und wieder von ihren Tagebuchnotizen oder der täglichen Korrespondenz auf. Zumindest bis zu Wagners Tod. Danach nämlich zeigt sich auch hier die sukzessive Emanzipation der neuen Herrin von Bayreuth, die sich nach Nietzsches Tod (1900) in einigen, zum Teil therapeutisch anmutenden Nachruf-Äußerungen von diesem als einem großen Geist der Vergangenheit zu befreien sucht.

Dabei aber funktionieren Wagner und Cosima in erster Linie als Spiegel, in denen sich die teilweise recht widersprüchlichen Belege der Nietzsche'schen Gedankenwelt als verzerrt vervielfältigte Abbilder wiederfinden - so lässt sich am ehesten der faszinierend-schaurige Eindruck beschreiben, der sich beim Leser einschleicht, wenn er sich auf diese Gedankenwelt einlässt. Man spürt dabei förmlich, welch unglaubliche Menge an Lebensenergie Nietzsche in jenen Jahren investiert hat, um sich mit seinem Verhältnis zu Wagner (und in geringerem Maße zu Cosima) zu beschäftigen. Die Bemerkung des Verfassers, die Auseinandersetzung mit Wagner, und zwar "in ihrer ganzen Spannungsweite von glühender Affirmation bis zu fast haßerfüllter Negation" sei "das Herzstück von Nietzsches Denken gewesen", wird durch diese Lese-Erfahrung mehr als bestätigt.

Dabei ist der Einstieg in den 'neuen Borchmeyer' ein gedankliches Nadelöhr, durch das sich der Leser so unvermittelt zwängen muss, das ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als die erste Seite mindestens drei Mal zu lesen. Aber der Verfasser hat wohlweislich vorgewarnt: 'labyrinthisch' ist das Schlüsselwort der ersten Kapitelüberschrift, das zum Leitmotiv der gesamten Darstellung wird. Denn 'labyrinthisch' sind nicht nur die gedanklichen Wechselwirkungen des auseinanderdriftenden Dreigestirns, sondern als 'labyrinthisch' erweisen sich auch Nietzsches Gedankengänge, und zwar umso mehr, je älter er wird.

In 26 Einzelkapitel zerlegt, die meisten davon deutlich unter zehn Seiten lang, wird das vorliegende Psychogramm der Nietzsche-Wagner'schen Freundschaft trotz des inhaltlichen Anspruchs zu einer verhältnismäßig kurzweiligen und dynamischen Lektüre, die immer wieder an den wesentlichen Momenten innehält und den Blick in die Tiefe bietet, ohne sich deshalb in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Allerdings geizt der Verfasser zuweilen mit Jahreszahlen, so dass man gut daran tut, sich selbige bei jeder Datumsangabe dazuzudenken, um bei kleinen antizipatorischen oder retrospektiven Zeitsprüngen nicht zu stolpern.

Ergiebig für jeden Textarbeiter, der auch über den eigenen Tellerrand hinaus blickt, sind die Erläuterungen zu Wagners Präsenz in "Menschliches, Allzumenschliches" (1878) und vor allem die Durchleuchtung des "Zarathustra" (1883-85) nicht nur auf Reminiszenzen des "Parsifal" (1882), als dessen Gegenwerk er gilt, sondern auch anderer Werke Wagners, bis hin zur Identifikation der Antipoden Nietzsche und Wagner in den Figuren des Zarathustra und des Zauberers.

Das in der alten Rechtschreibung gehaltene Buch ist sehr gut lektoriert, weshalb die wenigen Schönheitsfehler besonders ins Auge stechen: So ist Oliver Hilmes' Cosima-Biografie selbstverständlich nicht 1907, sondern 2007 erschienen; das "Ancien Régime" besteht (wie die "Grande Dame") auf zwei Majuskeln, und für die Fußnoten wäre ein einfacher Zeilenabstand ausreichend gewesen - Anmerkungen, die zugegebenermaßen kleinlich anmuten angesichts der Größe der hier versammelten Geister und Meister.

Auch fehlt trotz des verhältnismäßig überschaubaren Personenkreises ein Personenregister; dagegen wurde die Zeittafel, die - konsequent genug - durch eine rigorose Beschränkung auf die chronologischen Daten der dargestellten Beziehungen übersichtlich gehalten ist, unverändert aus der 1998 erschienenen Textcollage übernommen.

Gegen Ende der Lektüre beginnen sich Informationen zu wiederholen - ein Indiz dafür, dass zu diesem Thema, soweit es die zugrunde gelegten Quellen betrifft, nun doch alles gesagt ist. Dem entspricht auch ein gewisses Sättigungsgefühl, das sich auf den letzten Seiten einstellt. Borchmeyers Nachwort ist deshalb diesmal gleichzeitig auch das Schlusswort. Dessen letzte Zeilen, die den prophetisch anmutenden Wunsch des Verfassers nach Erfüllung der vielzitierten 'Sternen-Freundschaft' enthalten, sind passenderweise gleich doppelt abgedruckt - für alle Fälle!


Titelbild

Dieter Borchmeyer: Nietzsche, Cosima, Wagner. Porträt einer Freundschaft.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
215 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-13: 9783458350637

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