Der Blick, der Bescheidenheit weckt

Shirin Kumm und ihr Roman eines unheilvollen Risses

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Minni macht es dem Leser nicht einfach. Schon auf den ersten Seiten gesteht sie den Mord an Aroma. Aroma ist ihre Uroma aus Darmstadt. Die liegt in der Badewanne, während die Urenkelin in der Wohnung eines ihr gänzlich fremden Mannes erwacht. Kann so was gut enden?

Das zur Rahmenhandlung von Shirin Kumms Roman "Der Blick hinab". Minni, die eigentlich Minima heißt, weil ihr Vater den Erstgeborenen Maxima genannt und so beide für das Leben gezeichnet hat, leidet. Sie leidet vor allem an dem Riss, der mitten durch sie hindurchgeht. Geboren im Iran als Tochter eines persischen Mathematikers, den jedermann nur Professor nennt, und einer musikalisch begabten Deutschen, die ihrem Mann zuliebe Heimat und Religion aufgegeben hat, um gänzlich in der neuen Rolle aufzugehen, wächst sie sehr behütet im Kreis ihrer Familie auf - und wird so schlecht auf das wahre Leben vorbereitet. Und dabei ist sie auch noch mit Menschen zusammen, die sich nicht sonderlich für sie interessieren. Schließlich läuft bei ihnen alles neben- statt miteinander ab. Daher sucht sich Min(n)i einen Ersatz und findet im Musizieren einen Zufluchtsort, der ihre Fremdheit und Einsamkeit innerhalb der Familie aber nur schwer kompensieren kann. Als die Islamische Revolution im Iran jedoch die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen radikal einschränkt, zerplatzt auch der Traum von einer Gesangskarriere.

Auch Minnis Leute machen es dem Leser nicht einfach. Vater, Mutter und Bruder Maxi, der Feminine, leben in ihrer eigenen Welt. Die Eltern sind die Einzigen, die sich nahe stehen. Alles andere interessiert sie wenig. Und so geht es die nächsten Jahre weiter, bis die Kinder groß werden. So planen Maxi und Mini, ins Ausland zu gehen: In die USA, nach Großbritannien oder Deutschland. Sie entscheiden sich für letzteres. Hier ist die Heimat ihrer Mutter, sie kennen das Land von früheren Besuchen und dort lebt auch Aroma.

Doch der Umzug von Teheran nach Darmstadt ist ein radikaler Einschnitt in das Leben der jungen Frau. Sie, die daheim stets so behütet und in der Öffentlichkeit von den religiösen Gesetzen zur Verschleierung und quasi Unsichtbarkeit gezwungen wurde, flippt angesichts der neu gewonnenen, ihr bis dato unbekannten persönlichen Freiheit in Deutschland vollkommen aus: "Mein Leben heißt rebellieren gegen die Kleidervorschriften, Moral und Sitten meines Heimatlandes." Sie trägt ausgefallene Klamotten, geht auf viele Partys, lässt den Sprachunterricht schleifen, sitzt in Cafés oder geht Shoppen. Ihr Bruder gibt sein Leben in der Fremde nach kurzer Zeit entnervt auf. Über das Leben in Deutschland urteilt er resigniert: "Ich kenne schon eine Menge toller Leute hier - aufgeschlossen und interessiert. Das ist nicht das Problem. Ich meine das Straßenbild - den humorlosen Umgang miteinander, die gnadenlose Sachlichkeit, die vollkommene Abwesenheit des Lächelns. Da draußen mißtrauen sie allem, was fremd ist. So nach dem Motto: Deutschland den Deutschen. Hier bin ich schlicht und einfach nicht willkommen. Tagtäglich läßt man mich das spüren. Deutschland wird mir keine Perspektive bieten, da bin ich mir sicher." Darüber klagt er und kehrt bald zurück.

Doch Minni bleibt - ohne festen Plan für ihre Zukunft. Da lernt sie Luc kennen. Die erste Liebe ihres Lebens. Und sie tut, was schon ihre Mutter tat: Sie zieht zu ihm und findet da eine Heimat, vielleicht ihre erste richtige. Ist es dann Zufall oder Glück? Luc kennt einen Musiker und Produzenten. Und plötzlich ergibt sich für die junge Frau die Möglichkeit, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen.

Die Aufnahmen gefallen dem befreundeten Musiker. Aber da gibt es noch ein Geheimnis, eine Angewohnheit, von der die junge Frau einfach nicht lassen kann: Sie liebt es, sich zu schneiden. Mit Rasierklingen und scharfen Steinen ritzt sie sich die Haut auf, um ihr Blut fließen zu sehen. Luc sieht, bittet, warnt und verlässt seine Geliebte, deren Hand nicht aufhören kann zu "zucken".

Aroma liegt in der Badewanne. Minni erschlug sie, als sie hinter das Geheimnis kam. Dann in einer Bar lernt sie Achim kennen und gewinnt beim Karaoke-Wettbewerb den ersten Platz. Er nimmt sie mit. Am nächsten Morgen muss er weg. Minni bleibt allein zurück, will sich nun umbringen und geht auf den Balkon. Es ist die zentrale Stelle im Roman: "Ein lahmer, heißer Tag schleicht sich durch den Dunst der Stadt. Ich beobachte die Autos und die Menschen, die unwirklich klein aussehen. Ob die wissen, die Menschen da unten, wie klein sie von hier aus wirken? So klein, wie sie vielleicht in Wirklichkeit sind. Ein Blick von oben nach unten weckt Bescheidenheit, denke ich, alle sollten hin und wieder von oben hinabsehen."

Wie es dann weitergeht, wird natürlich nicht verraten. Selber lesen. Nur so viel: Die Protagonistin hält den Leser noch einige Zeit in Atem und man fragt sich, ob es in so einer Geschichte überhaupt ein wirkliches Happy End geben kann. "Alles geht. Verdächtig gut. Samtweich und glatt. Wenn nur meine Hand nicht wäre, die verhexte. Sie zuckt wieder."

Dieser Roman ist schwer verdauliche Kost. So wie Shirin Kumms Protagonistin immer wieder rückfällig wird und sich Wunden beibringt, so ritzt die Autorin dem Leser ständig ins Fleisch und nimmt ihm die Hoffnung, dass der Lebenslauf dieser innerlich zerrissenen jungen Frau doch noch gut ausgehen könnte, dass endlich Sicherheit und Stabilität, Frieden und Glück bei ihr einkehrten. Ruhe hat sie nicht. Wird sie auch nicht haben. Denn Shirin Kumm zeichnet eine Figur, die es nicht gelernt hat, die beiden sich fremden Kulturen, die ihre Protagonistin in sich trägt und deren unkontrolliertes Aufeinanderprallen in ihr beständig für Unordnung und Leid sorgen, kritisch zu hinterfragen und für sich selbst das Beste aus ihnen herauszuholen.

Minni hat bei ihren Eltern nicht gelernt, selbstständig zu denken und zu handeln. So lässt sich die Tochter später immer wieder gehen, gibt sich keine Mühe, wo es sich wirklich lohnen würde, fleißig und diszipliniert zu sein. Ihre Probleme wurzeln also in ihrer Kindheit, in der sich niemand wirklich Zeit für sie genommen hat. Niemand hat sie auf das Leben vorbereitet. Wie denn auch? In ihrer Familie zumindest interessiert sich jeder nur sich selbst. Es gibt kein Zusammenleben, höchstens ein Nebeneinander. Und in Deutschland? Da ist die Unerfahrene zwar vollkommen frei und nur für sich selbst verantwortlich, aber trotzdem bleibt sie einsam. Keine Eltern, keine Sittenwächter, keine Kontrolle - es gibt nicht, was ihrem Leben eine Richtung und damit ein Ziel geben könnte.

Und so beherrscht Einsamkeit den Roman. Eine große Einsamkeit, die alle Figuren - sowohl im Iran als auch in Deutschland - umgibt und sie voneinander entfernt hält. Nur für einen kurzen Moment ändert sich die Situation, gibt es plötzlich ein kleines bisschen Hoffnung. Ein einziges Mal erwacht die Migrantin Minni aus ihrer Trägheit und Lethargie: Sie beginnt zu reflektieren. Der Blick hinab führt zu der Erkenntnis, es vielleicht doch einmal mit Bescheidenheit zu probieren, Ruhe zu gewinnen, die Dinge einmal nüchtern anzugehen und sich nicht, wie bis dahin, von ihren Gefühlen (ver-)leiten zu lassen.

Shirin Kumm macht es uns mit ihrer interkulturellen Geschichte nicht leicht. Sie tut uns weh, richtig weh - aber das ist in diesem Falle gut. Wirklich gut.


Titelbild

Shirin Kumm: Der Blick hinab. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
204 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-13: 9783518458341

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