Ein ungewöhnliches Leben

Franziska Augstein über Jorge Semprún und sein Jahrhundert

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún wurde wie viele seiner Zeitgenossen vom Franco-Regime und den Nationalsozialisten verfolgt. Geboren wurde er vor bald 85 Jahren, am 10. Dezember 1923, als Spross einer großbürgerlichen, linksliberalen Familie in Madrid. Der Vater war bis zu Francisco Francos Militärputsch 1936 Gesandter der spanischen Republik in Den Haag. Nach der Machtübernahme durch Franco lebte die Familie im Pariser Exil.

Jorge Semprún, der bereits als achtjähriger Knabe den Tod seiner Mutter hatte verkraften müssen, interessierte sich schon früh für marxistische Literatur, insbesondere für Georg Lukács' "Geschichte und Klassenbewusstsein". 1942 schloss er sich der Résistance und den Kommunisten an, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet, schwer gefoltert und am 29. Januar 1944 ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Hier rettete er sich, ähnlich wie Ruth Klüger, in die stumme Rezitation von Gedichten.

Nachdem im Frühjahr 1945 das Lager von den Siegermächten befreit worden war, meldete sich Semprún in Paris bei der Kommunistischen Partei und der spanischen Exilführung. Mitte der 1950er-Jahre war er ein führender Funktionär in der illegalen Spanischen Kommunistischen Partei und bald wegen seiner Untergrundtätigkeit gegen das Franco-Regime auch einer der meistgesuchten Männer Spaniens. In den 1960er-Jahren überwarf er sich mit den Spitzenleuten seiner Partei und wurde 1964 ausgeschlossen. Seitdem ist Jorge Semprún Schriftsteller und Drehbuchautor. So weit sein Leben in aller Kürze.

Franziska Augstein, Journalistin und studierte Historikerin, hat diesen außergewöhnlichen Intellektuellen im Frühjahr 2002 kennen gelernt und mit ihm viele intensive Gespräche geführt. In Ihrem Buch "Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert" porträtiert sie ihn einfühlsam, aber nicht unkritisch, mit all seinen Widersprüchen und Schwächen.

Da sich in Semprúns Lebenslauf ein wichtiger Teil der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, ist Augsteins Buch keine Biografie im eigentlichen Sinne, sondern eher - zumindest im ersten größeren Teil - eine informative Studie über politische und historische Entwicklungen. Es handelt sich sozusagen um ein Geschichtslehrbuch mit vielen Details zum Beispiel über das Münchner und das Hitler-Stalin-Abkommen, über den Kampf der französischen Kommunisten gegen die deutsche Besatzung, die politische Entwicklung in Spanien, insbesondere in der dortigen Kommunistischen Partei, und vieles mehr. Franziska Augstein zitiert häufig aus ihren Gesprächen mit Semprún und ergänzt die von ihm herausgehobenen Aspekte durch eigene Recherchen.

Ausführlich schildert sie daneben Semprúns Leben und Werdegang: seine Gefangenschaft in Buchenwald, die Arbeit für die KP und seine schmerzhafte Abkehr von der stalinistischen Verblendung.

Seine Untergrundarbeit in Spanien sei zwar unbewaffnet vonstatten gegangen, schreibt Augstein, war aber auch recht abenteuerlich und "die wohl ernsthafteste Spielerei, die ein Mensch betreiben kann". Er sei ein begeisterter Kommunist und ein guter Stalinist gewesen, obwohl sein Kommunismus zunächst im Kopf entstanden und erst später zur Passion geworden sei. Doch habe er bereits im Konzentrationslager begriffen, "dass es zwei Wahrheiten gab, eine für die ungebildeten Genossen und eine für die anderen". Auch sei die Fähigkeit, nur das wahrzunehmen, was ihm ins Konzept passe, bei Semprún stark ausgeprägt, stellt die Autorin weiter fest.

Neben kleinen Anekdoten tauchen auch immer wieder illustre Namen und Lebensläufe auf, wie etwa die von Egon Bahr und Wolfgang Leonhard, von Eugen Kogon, Bruno Apitz, Imre Kertész, vom Spanienkämpfer Kurt Julius Goldstein und politischen Publizisten Joseph Rovan, ferner von Marguerite Duras, André Malraux, Peter Ensikat und vielen anderen. Auch die Erwähnung von Ralph Giordanos Bericht über seine Entstalinisierung und ein Spiegelartikel von Vater Rudolf Augstein vom 29.1.1979 finden sich in Augsteins Biografie wieder. Dann wieder bezieht sie sich auf jüngste Publikationen und Ereignisse und stellt so Verbindungen zur Gegenwart her.

Von Mitte der 1960er-Jahre an allerdings, räumt die Autorin ein, sei sie ihrem Protagonisten "nicht auf den Fersen" geblieben. Von da an gilt ihre Betrachtung in erster Linie Semprúns schriftstellerischem Werk und dürfte daher vor allem jene Leser fesseln, die vergangene Querelen und Konflikte bei den Kommunisten heute nicht mehr sonderlich aufregend finden.

Nun endlich nach seinem Ausschluss aus der Partei hatte Jorge Semprún das werden können, "was er stets hatte werden wollen": Ein Schriftsteller, verehrt von vielen, ausgezeichnet und bewundert, obwohl er im Grunde auch schon im KZ in der Literatur gelebt und viel gelesen hat. Literatur sei, so die Autorin, nun einmal seine Konstante im Leben. Inzwischen hat der spanische Schriftsteller zahlreiche Bücher verfasst, auch Drehbücher, diverse Artikel, hin und wieder ein Theaterstück und hält mitunter auch Vorträge.

Sein 1963 erschienenes Erstlingswerk "Die große Reise" über den Gefangenentransport in das Lager Buchenwald schrieb er noch als Kommunist, der daran anknüpfende "Was für ein schöner Sonntag" von 1980 zeugt schon von seiner politischer Läuterung. Denn hier beschreibt er, "was mit ihm geschah, nachdem er aus der KP ausgestoßen worden war, aus der Gemeinschaft der Genossen und zunehmend im Widerstreit mit Theorien, die er gutgeheißen hatte".

Schließlich habe er, so Franziska Augstein, das systematische marxistische Theoretisieren ganz aufgegeben und halte heute die schriftstellerische Arbeit für ergiebiger, freudvoller und einträglicher als alle marxistische Besserwisserei, nicht zuletzt auch deshalb, weil er sich bald von den Zeitläufen bestätigt gesehen habe. Zudem habe er mit dem Eintritt ins Filmgewerbe neue Bekannte wie etwa Yves Montand gefunden. In Paris fühle er sich wohl, schreibe die meisten Bücher auf französisch und sei in den 1980er-Jahren für eine kurze Zeit Kulturminister Spaniens gewesen. Stoff seiner Bücher, heißt es weiter, sei in erster Linie sein Leben und scharfsichtige Betrachtungen über das 20. Jahrhundert.

Denn Semprún habe nie bloß erlitten, was er erfuhr und erlebte, sondern immer auch durchdacht. Aber vieles erzählt er, merkt Augstein an, in seinen eigenen Büchern nicht, insbesondere die politische Wandlung, die er seit seinem Ausschluss aus der Kommunstischen Partei durchlief, habe er selbst literarisch nicht mehr verfolgt.

Er habe Freude an allen Bildungsgütern sowie Lust an der Schilderung des gefährlichen Engagements und sei in vielen Traditionen zu Hause, sowohl sprachlich als auch kulturell. So resümiert die Verfasserin: "Sein Werk ist für alle, seine Liberalität ist universell. Er ist ein europäischer Schriftsteller."


Titelbild

Franziska Augstein: Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
382 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406577680

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