Katastrophengeschichten

Christine Beil rückt den Ersten Weltkrieg wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der Erste Weltkrieg die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts sei, wie George F. Kennan prägend formuliert hat, ist angesichts des Zweiten Weltkriegs und des Vernichtungsprogramms gegen die europäische jüdische Bevölkerung zeitweise ein wenig in Vergessenheit geraten. Allerdings wächst das Verständnis für die historischen und kulturellen Ereignisse im frühen 20. Jahrhundert wieder, und so ist auch der Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Großen Krieg mehr und mehr ins Blickfeld gerückt. Daneben ist auch der Charakter des Kriegs von 1914-1918 als gesellschaftliches Laboratorium und als Dynamisierungsphase der Modernisierungsprozesse verstärkt zur Kenntnis genommen worden. Ob nun, wie im vorliegenden Fall, der Krieg als "Schlüsselereignis" verstanden wird oder als Schwelle, bleibt dabei nachrangig. Zentral ist, dass die Aufmerksamkeit für die Jahre 1914 bis 1918 größer wird, und das ist angemessen. Immerhin hat dieser Krieg das Gesicht Europas entscheidend verändert, wie auch die Geschichte dieses Kontinents einen vielleicht am Ende heilsamen Schub erhalten hat.

Mit dem verstärkten Interesse an dem Krieg hat sich allerdings die Wahrnehmung selbst verändert, nachdem nun, wie Jürgen Büschenfeld in dem einleitenden Beitrag dieses als Begleitband zu einer ARD-Reihe entstandenen Buchs bemerkt, die historischen Fakten in der Forschung weitgehend aufgearbeitet worden sind. Die Anhäufung von Detailinformationen führt dabei keineswegs zu einer Verbesserung des Kriegsbildes. Konsquenterweise hat sich die Forschung vom historischen Detail mehr und mehr zur Bewertung des Gesamtereignisses verschoben. Nachdem der Ablauf bekannt ist, soll nun die Bewertung des Kriegs neu vorgenommen werden.

Allerdings hat dieser Band, der neben der Einleitung von Büschenfeld mit Beiträgen von Susanne Stenner, Heinrich Billstein, Werner Biermann, Anne Roerkohl, Christine Beil und Gabriele Trost bestritten wird, mit dieser Forderung seine geheime Not. Zwar werden die historischen Fakten chronologisch sauber vorgetragen und einander zugeordnet, auch sind die Ereignisse, die zum Krieg führen und die diesen Krieg ausmachen, ausführlich präsentiert. Das hat auch und gerade politische Implikationen - etwa in Sachen imperialer Aufholjagd des neuen, industriellen Deutschlands wilhelminischer Prägung.

Dennoch werden weiterreichende Fragen auffallend selten gestellt - Fragen, die die Position und Funktion des Kriegs im Prozess der industriellen, sozialen und wirtschaftlichen Modernisierung betreffen. Dabei ist das Material durchaus vorhanden - nur sind die Autorinnen und Autoren des Bandes auffallend zurückhaltend damit, sich von der positivistischen Schilderung zu lösen, um damit eine freundliche Formulierung für das oben skizzierte Verfahren zu verwenden.

Der Band ist dabei überaus praktisch eingerichtet. Er enthält neben den Aufsätzen eine Chronik des Weltkriegs, Karten, zahlreiche Fotos mit ausführlichen Legenden und eine Liste der weiterführenden Literatur. Begonnen wird mit einer Einführung in das Thema und in die Entstehung des Kriegs, in der auch die grundsätzlichen Positionen des Fachs zum Phänomen vorgestellt werden (Büschenfeld). Daraufhin folgt eine ausführliche Diskussion der Tannenbergschlacht, die die beiden Militärs Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff in der militärischen und politischen Hierarchie weiter nach oben katapultierte (Stenner). Billstein hat sich mit dem Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg beschäftigt, Biermann präsentiert die erste große Materialschlacht des Krieges vor Verdun, Roerkohls Thema ist die Situation in der Heimat und Beil und Trost widmen ihren Beitrag dem Vertrag von Versailles.

Damit handelt der Band zentrale Phasen und Ereignisse des Kriegs ab. Darunter befinden sich auch solche, die bei der Wahrnehmung zeitweise in den Hintergrund geraten sind wie die Kämpfe an der Ostfront, die im Jahr 1917 endeten. Gaskrieg und Materialschlachten gehören jedoch zu den Zentralthemen des Ersten Weltkriegs und bestimmen das Bild, das heute in der weiteren Öffentlichkeit präsent ist.

Dass diese Wahrnehmung allerdings durch den jeweiligen Standort der ehemaligen Kriegsparteien geprägt ist, erweist sich nicht zuletzt dadurch, dass die Autorinnen und Autoren neben der deutschen Seite immer wieder auch die der Kriegsgegner einbinden und einen (kleinen) Schritt in Richtung europäisch geprägter Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Kriegs machen. Dabei ändert sich das Gesamtbild deutlich. Ähnliche Erfahrungen machen Besucher eines der wichtigsten Kriegsmuseen Frankreichs, des Historials in Peronne, das als erstes französisches Kriegsmuseum weniger die eigene Kriegspartei denn das Gesamtereignis in den Blick nimmt und dabei erstaunliche Parallelen zwischen den Kriegsparteien erkennen lässt, die sich ansonsten als unversöhnliche Blöcke gegenüberstanden.

Wie spannend und aufschlussreich die Diskussion des historischen Phänomens sein kann, wird auch in dem Beitrag über den Versailler Vertrag erkennbar. Gerade in seiner Unentschiedenheit, den für die deutsche Seite demütigenden Charakter des Vertragswerks wahrzunehmen oder zu rechtfertigen, wird erkennbar, dass seine Wirkung auf die folgenden Jahrzehnte europäischer Geschichte erheblich ist. Die Schwierigkeit besteht nämlich nicht zuletzt darin, dass der Vertrag von Versailles ("das Versailler Schanddiktat") einer der zentralen Bezugspunkte des Nationalsozialismus war und ihm einen großen Teil der Zustimmung in der deutschen Bevölkerung verschaffte: Wer also den Vertrag als Fehlkonstruktion beschreibt, rückt damit unversehens in die Nähe des Nationalsozialismus - sodass es schwierig wird, einigermaßen abgewogen zu bewerten, ohne dem NS-Denkmuster wenigstens eine teilweise nachvollziehbare Relevanz beizumessen - ein Dilemma, dem sich kaum jemand zu entziehen vermag.

Allerdings ist fraglich, ob es überhaupt eine wesentliche Alternative zum Versailler Vertrag gegeben hätte. Die Interessen der beteiligten Staaten wiesen in unterschiedliche Richtungen. Der Wunsch der Franzosen, nicht nur für die Niederlage von 1871 Revanche zu nehmen und dem symbolträchtig Ausdruck zu geben, sondern auch die Deutschen für die Zerstörung ganzer Landstriche in Nordfrankreich und die Tötung von Millionen von Franzosen verantwortlich zu machen und bezahlen zu lassen, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch kaum abzuschlagen. Die deutschen Verhandlungsführer hatten zudem durch die Arroganz der deutschen Interessenvertreter während des Kriegs und die Beharrlichkeit, mit der sie fast bis zum Kriegsende Maximalforderungen vorgetragen und gegenüber den Russen auch durchgesetzt hatten, zu leiden.

Auch sind etwa in dem Beitrag zur "Heimatfront" durchaus interessante und weitreichende Fragestellungen zu finden - wie auch beinahe beiläufig auf Funde hingewiesen wird, die die Diskussion zum Weltkrieg bereichern können. So sind die Fotografien der Braunschweiger Hobbyfotografin Käthe Buchler, die Frauen während des Kriegs in Männerberufen zeigen, den Bearbeitern zwar einen eigenen Kasten wert. Dabei ist ihre Bedeutung jedoch noch weit höher einzuschätzen, als ihre Behandlung hier denken lässt, bedenkt man die Folgen des Kriegs für die alltägliche und rechtliche Gleichberechtigung der Geschlechter danach.

Allerdings, selbst wenn es offene Wünsche an den Band gibt, ist einzuräumen, dass es sich bei ihm nicht um einen originären Forschungsbeitrag, sondern um einen Begleitband zu einer Fernsehdokumentation handelt, der angehalten ist, Popularität, Klarheit und Verständlichkeit miteinander zu verbinden. Die teilweise flotte Sprache und die starke Berücksichtigung von Fakten in ihrer kausalen und chronologischen Reihenfolge sind dem gleichfalls geschuldet. Mit anderen Worten - ein noch stärker wertender und theoretisierender Charakter hätte der Aufgabe des Bandes widersprochen. Insofern ist sein zugleich umfassender und exemplarischer Zugang, der mit Basisinformationen und umfangreichem Bildmaterial aufgefüttert worden ist, sehr zu begrüßen. Der Nutzwert wird jedenfalls dadurch hoch gehalten.


Titelbild

Christine Beil / Werner Biermann / Heinrich Billstein / Jürgen Büschenfeld / Anne Roerkohl / Susanne Stenner / Gabriele Trost: Der Erste Weltkrieg.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006.
262 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3499620952

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