Von goldenen Zeiten
Hiltrud Gnügs Einführung in die literarischen Utopien
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Und es entstand die erste, die goldene Zeit: ohne Rächer, / Ohne Gesetz, von selbst bewahrte man Treue und Anstand."
Ovid berichtet in den Metamorphosen ausführlich von den längst vergangenen utopischen Zuständen dieses goldenen Zeitalters. Seine Verse setzt Hiltrud Gnüg, Professorin am Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften der Universität Köln und durch zahlreiche literaturwissenschaftliche Publikationen bekannt, ihrem Buch "Utopie und utopischer Roman" voran. Die Monographie stellt eine Neufassung ihrer 1983 erschienenen Einführung "Der utopische Roman" dar.
Den größten Teil des Buches bildet eine chronologisch geordnete Übersicht der wichtigsten utopischen Werke der Literaturgeschichte. Dankenswerterweise ist ihr eine Bestimmung des Begriffs des Utopischen vorangestellt. Knapp und klar grenzt die Literaturwissenschaftlerin ihn einerseits strukturell von philosophischen Werken und politischen Programmen ab und andererseits inhaltlich von anderen literarischen Genres.
Im Hauptteil werden neben kanonisierten Titeln auch eine Reihe weithin unbekannter Werke vorgestellt und kurz besprochen. Gnüg setzt ein mit Platons "Politeia", (vor 347 v. Chr.), einem literarischen, philosophischen und - wie bereits der Titel verrät - nicht zuletzt politischen Werk. Ausführlich wird die unvermeidliche Trias von Thomas Morus' "Utopia" (1516), Campanellas "Sonnenstaat" (1623) und Francis Bacons "Nova Atlantis" (1627) gewürdigt; zu den weniger bekannte Werke zählt etwa François Rabelais' "Gragantua et Pantagruel" (1532ff.).
Einen besonderen Einschnitt in der Geschichte der Utopien stellt Louis-Sébastien Merciers "Das Jahr 2440" dar, mit dem er die erste Zeitutopie schuf - sieht man von der Bibel oder Dichtungen wie Ovids "Metamorphosen" ab, die paradiesische Zustände in tiefster Vorvergangenheit beschreiben. Die Verlagerung der utopischen Gesellschaft vom fernen Ort in die ferne Zukunft ist nicht zufällig, sondern liegt im Kerngedanken des zur Zeit der Aufklärung entstandenen Romans. Bislang stellten Utopien stets eine ideale Gesellschaft vor, endgültig und geschichtslos. In Louis-Sébastien Merciers utopischem Roman hingegen wirkt die Zeit erstmals als "geschichtsbildende Kraft". Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Frankreich des Jahres 2440, die der Besucher aus dem 18. Jahrhundert "aufs höchste bewundert, bedeuten für seine Bewohner aus dem 25. Jahrhundert keineswegs die Erfüllung, d.h. das Ende der Geschichte". Vielmehr sind sie sich der weiteren positiven Entwicklung der Menschheitsgeschichte sicher. Solche Vorstellungen der Perfektibilität des Menschen und des Fortschritts sind ebenso signifikant für die Aufklärung wie Kants "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" und sein Entwurf "Zum ewigen Frieden". Das folgende, das 18. Jahrhundert, ist durch weitere Zeitutopien, meist sozialistischen Einschlags, geprägt. Besonderes Augenmerk richtet Gnüg jedoch erst wieder auf die Entwicklung der utopischen Literatur im 20. Jahrhundert. Ihr gilt fast ein Viertel des ganzen Buches.
Mit ihrem einführenden Werk hat die Autorin einen im Ganzen verlässlichen Überblick über die Geschichte der utopische Literatur vorgelegt, der allerdings nicht ganz frei von einigen kleineren Schwächen ist. Dass Fichtes "Geschlossener Handelsstaat" (1800) ausführlich gewürdigt wird, obwohl es sich ganz eindeutig um kein literarisches Werk handelt, sondern um ein Traktat der politischen Philosophie, ist durchaus zu hinzunehmen. Merkwürdig ist allerdings, das sei nebenbei bemerkt, dass ein Autor dieses Ranges nur nach der Sekundärliteratur zitiert wird. Zwei ebenfalls besprochene cineastische Werke, Edward Humes "The Day After" und Konstantin Lopuschanskijs "Briefe eines Toten", hingegen wirken als ausgesprochene Fremdkörper.
Und das ausgerechnet das seit Jahrzehnten besonders innovative Subgenre feministischer Utopien unterrepräsentiert ist, erstaunt umso mehr, als Gnüg die unlängst erschienene und sehr empfehlenswerte "FrauenLiteraturGeschichte" (vgl. die Rezension von Christine Kanz: "Den quietschenden Türen zum Trotz" literaturkritik.de Jg. 1, Heft , 1999) mitherausgegeben hat, deren Abschnitt über "Weibliche Utopien" aus ihrer Feder stammt. Gnüg zufolge verschaffte sich der feministische utopische Roman mit einem "fulminanten Debüt das Interesse der Öffentlichkeit". Gemeint ist Mary Shelleys "Frankenstein" (1818), dessen Bedeutung hier gewiss nicht unterschätzt werden soll. Das eigentliche, nicht weniger fulminante Debüt feministischer Utopieproduktion fand jedoch bereits 1405 statt. Damals veröffentlichte Christine de Pizan "Die Stadt der Frauen". Gnüg begnügt sich mit einem Halbsatz zu Pizan.
Immerhin aber geht die Autorin ausführlich auf Charlotte Perkins Gilmans feministischer Staatsutopie "Herland" (1915), Marlene Haushofers alternativ-feministischer Robinsonaden-Utopie "Die Wand" (1963) und die beiden Dystopien "Kallocain" (1940) von Karin Boye und "Der Report der Magd" (1985) von Margaret Atwood ein. Besonderes Augenmerk richtet die Verfasserin auf Atwoods Roman, dessen grundlegendes Motiv das "Schriftverbot für Frauen" in der religiös verbrämten Männerdiktatur Gilead darstellt. Nicht ganz zu unrecht kritisiert Gnüg, dass Atwood ihre Idee des Lese- und Schreibverbots für Frauen verschenkt, weil sie nicht zeigt, inwiefern sich männliche Macht auf Schrift gründet. Leider kontrastiert Gnüg Atwoods Buch nicht mit anderen feministischen Utopien, in denen umgekehrt Frauen die Schrift als männliche Kommunikationsform verworfen und abgeschafft haben, wie etwa in Sally Miller Gearharts "The Wanderground" (1979). Ein Vergleich, der interessant zu werden versprochen hätte.
Mit Margaret Atwoods "Report der Magd" schließt der chronologisch geordnete Durchgang durch die Utopien, so dass die letzten anderthalb Jahrzehnte mit so wichtigen Entwicklungen wie den Cyberpunk- und Cyborg-Utopien unberücksichtigt bleiben.