Obsession in Bildern

Zu dem Roman "Die Frau auf dem Foto" von James Wilson

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

James Wilsons Roman "Die Frau auf dem Foto" erzählt die Geschichte einer Obsession. Ein Foto ist der Angelpunkt der Geschichte. Es stammt aus der Brieftasche eines im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten. Beim Einsetzen der Erzählung ist die Fotografie im Besitz von Henry Whitaker, dem Protagonisten des Romans. Whitaker ist ein britischer Filmemacher und die Geschichte setzt vor seiner Laufbahn im Filmgeschäft ein. Whitakers Vater wird im Ersten Weltkrieg von einem deutschen Soldaten getötet. Sein Mitstreiter im Schützengraben erschießt den deutschen Soldaten und nimmt als Trophäe ein Etui mit einem Feldstecher, dem Bild einer Frau und einen Brief an sich. Whitaker bekommt diese "Erinnerungsstücke" aushändigt. Auf dem Foto ist eine junge Frau abgebildet, die Frau des gefallenen deutschen Soldaten. Whitaker, dabei den Verlust seines Vaters zu verarbeiten, nimmt als Einundzwanzigjähriger, fast zehn Jahre nach Kriegsende, die Mühe auf sich, die Frau auf dem Photo zu suchen. Sie lebt in der deutschen Provinz und schlägt sich als Prostituierte durch. Whitaker verbringt eine Nacht mit ihr, ohne sich ihr zu offenbaren.

Whitaker schreibt Tagebuch und ist der Ich-Erzähler eines Erzählstrangs des Romans. Die Aufzeichnungen beginnen im Dezember 1927 - mit dem oben beschriebenen Besuch in Deutschland - und enden mit einer zweiseitigen Notiz vom September 1939. In Anbetracht des bevorstehenden Weltkrieges formuliert der Protagonist sein Lebensmotto: "In diesen furchtbaren und folgenschweren Tagen schwöre ich es: Wenn ich dich [die Frau auf dem Foto] wiederfinde, werde ich dir folgen, wohin immer du mich führst und wie hoch auch der Preis sein mag." Kurz nach dem Kriegsende wird er bei den Recherchen und Dreharbeiten über die Flüchtlingssituation in Deutschland ebendieses "Traumbild" finden, seine erste Frau verlassen und eine zweite Ehe eingehen.

Das Kind aus dieser zweiten Ehe ist Miranda, deren Geschichte neben den Tagebuchaufzeichnungen Henry Whitakers der zweite Erzählstrang des Romans beschreibt: ein Bericht zu ihren Recherchen zum Leben und zur Person ihres Vaters. Sie wird nach einer lange verdrängten Kindheit durch die Nachforschungen des Kultur- und Filmgeschichtswissenschaftlers Alan Arkwright mit dem Bild ihres Vaters konfrontiert. Briefe an Arkwright und der Bericht über ihre Reise nach England auf den Spuren ihres Vater markieren den Beginn ihrer Erzählung und werden bis zum Auffinden ihrer "Schwester" von einem immer differenzierter werdenden Bild der Vaterperson begleitet. Dabei schafft es Wilson - und mit ihm die beiden Übersetzer in der deutschen Übertragung - eine dichte Erzählsituation zu erzeugen, die die Ambivalenz der Figur Whitakers zu einer komplexen Persönlichkeit wachsen lässt. Denn nur so wird der Bruch in der Lebensgeschichte deutlich, der durch die Trennung von seiner ersten Frau markiert wird. Der Roman schließt mit Mirandas Auffinden der Aufzeichnungen ihres Vaters.

Der Roman hinterlässt beim Leser einen zwiespältigen Eindruck. Zwar ist er von einer intensiven erzählerischen Dichte, hat einen guten Rhythmus und einen andauernden Spannungsbogen bis hin zur letzten Seite. Auch sind die Passagen mit den Schilderungen des Filmgeschäfts in England und Deutschland gelungen und man bekommt in den Aufzeichnungen von Henry Whitaker einen guten Einblick in den Alltag des Deutschlands der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Aber es bleibt der Eindruck, dass der Autor den Plot "verschenkt" hat. Die Frau auf dem Foto wird über hunderte von Seiten thematisiert, bietet auch genügend Interpretationsspielraum - dieser läuft jedoch in ein paar Sätzen aus, die einen Umbruch, eine Lebenswende markieren. Es scheint über dem Buch ein weiterer Stoff, die eigentliche Geschichte zu schweben, die nicht erzählt worden ist. Mit diesem ambivalenten Gefühl schließt man die Lektüre und ist sich sicher, den nächsten Roman von Wilson lesen zu wollen. Denn selten vermutet man im nächsten Buch eines Autors soviel Potential wie in dem vorliegenden Roman.


Titelbild

James Wilson: Die Frau auf dem Foto. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Katharina Förs und Thomas Wollermann.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
502 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174110

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