Drei Utopien
Robert Kurz' Nachruf auf den Kapitalismus
Von Georg Fülberth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls in den neunziger Jahren ein "Schwarzbuch des Kommunismus" (siehe Oliver Georgi über Horst Möllers Sammelband zur Schwarzbuch-Debatte in literaturkritik.de 2. Jg., Heft 6, 2000 erschien, verfielen an weit voneinander entfernten Orten sehr verschiedene Leute auf denselben Plan: es müsse jetzt auch ein "Schwarzbuch des Kapitalismus" geben.
Aber nur einer hat es dann geschrieben: Robert Kurz. Dass ausgerechnet er das Rennen machte, mag damit zu tun haben, dass er auf ein Konzept zurückgreifen konnte, welches er seit dem Untergang des realen Sozialismus immer wieder schriftlich propagierte. Es handelt sich um die These vom "Kollaps der Modernisierung". Das Regime der "abstrakten Arbeit", die einen nirgends mehr sinnvoll anbringbaren Wert produziere, sei an sein Ende gekommen.
Über diesen Leisten schlägt Kurz nun auch die Geschichte des Kapitalismus. Sie ist bei ihm erstens vor allem Ideengeschichte, und sie gerät ihm etwa dreihundert Jahre kürzer als anderen Autoren (darunter Marx). Allmählich haben sich die Wirtschafts- und Sozialhistoriker darauf verständigt, dass der Beginn dieser Produktionsweise um circa 1500 anzusetzen sei. Da gibt es allerdings vorerst noch nicht ausschließlich "abstrakte" Arbeit, sondern zunächst Mord und Totschlag wegen sehr konkreter Dinge: Bodenschätze, Roherzeugnisse, Pfeffer, Seide, Sklaven. Diese blutreiche Vorgeschichte sieht der Autor dem Kapitalismus nach, er datiert ihn erst mit der Industriellen Revolution.
Dass er vornehmlich Geistesgeschichte schreibt, zeigt sich besonders deutlich, wenn wir sein Buch mit den vier Bänden vergleichen, die Eric Hobsbawm mittlerweile diesem Gegenstand - und auch hier erst ca. mit dem Jahr 1780 beginnend - gewidmet hat. Kapitalismus ist für Kurz fast ausschließlich eine verhängnisvolle idée fixe: die zwanghafte Vorstellung von Philosophen (er nennt u. a. Kant, Bentham, de Sade), Unternehmern und Unternommenen, dass alles dem Regime der abstrakten Arbeit unterworfen werden müsse. Das Modell von der "schönen Maschine" des Kapitalismus, nach dem die Welt umgestaltet werden solle, ist eine Utopie, deren Verfechter buchstäblich über Leichen gehen. Der Gedanke ist nicht neu, man findet ihn schon in Karl Polanyis Buch "The Great Transformation" (1944).
Den sogenannten "Arbeiterbewegungs-Marxismus" nimmt Kurz von der Kritik nicht aus. Auch Marx und Engels hätten ein positives Verhältnis zur abstrakten Arbeit gehabt. Hierin bestehe ihre Gemeinsamkeit mit dem Liberalismus. Von ihm unterschieden sie sich nur durch die unwesentliche Schrulle, dass bei ihnen die abstrakte Arbeit nicht privat, sondern staatlich verwaltet werden sollte. Aus Marx´ magnum opus bleibt praktisch nur das sogenannte Fetisch-Kapitel des Ersten Bandes übrig. Hier finde sich "der 'andere' Marx, der Kritiker des modernen Fetischismus von 'abstrakter Arbeit' und selbstzweckhafter 'Verwertung des Werts'". Selbst in der sowjetischen nachholenden Modernisierung ist "jener 'Traum'" enthalten, "von dem Marx einst gesprochen hatte und der sich nur dann einlösen läßt, wenn eine soziale Bewegung, die sich nicht mehr als das sich selbst verkaufende Vieh der Arbeitsmärkte definieren läßt, und eine theoretische Kritik des modernen Fetischsystems zusammenkommen." Ein Traum also: der Autor hat seine eigene Utopie. Er befindet sich damit wahrscheinlich tatsächlich in Übereinstimmung mit Marx, der vorschlägt: "Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben."
Kurz´ eigene Utopie-Variante ist weniger gewaltsam als diejenige des entfesselten Privateigentums, weist aber - anders als Marx´ Theorie - denselben Voluntarismus auf, den er den Marktradikalen vorhält - wenn er etwa annimmt, die Überwindung der Zünfte hätte auch auf nichtkapitalistischem Wege erfolgen können, nämlich "durch einen bewußten Konsens über die Entwicklung der Produktivkräfte, in dem das Verhältnis von Erweiterung der Produktion und der Bedürfnisse einerseits, der Verkürzung der Arbeits- und der Vermehrung der Mußezeit andererseits ständig neu diskutiert und gemeinsam festgelegt wird." Hier ist nicht eine denkbare Zukunft gemeint, sondern ein anderes Spätmittelalter.
Immerhin erkennt man in Kurz´ Text den Kapitalismus durchaus wieder. Er ist in seinen Augen der wahre Totalitarismus, der Stalinismus dessen eher schwache Nachahmung. Die Kritik an Hannah Arendt, die sich nur politischen Totalitarismus vorstellen konnte, nicht aber ökonomischen, überzeugt. Kurz´ historisches Gerüst mit den Drei Industriellen Revolutionen - um 1800 (Dampf- und Wasserkraft), um 1900 (Verbrennungsmotor und Elektrizität), um 2000 (Informationstechnologie) - trägt.
Überhaupt nicht einsichtig aber ist die These, dass die dritte Umwälzung die letzte gewesen sein soll. Mit ihr hat sich der Kapitalismus nach Meinung des Autors erledigt - nicht moralisch, sondern faktisch. Er sei "am Ende seines Blindflugs durch die Geschichte angelangt" und könne "nur noch zerschellen", habe keine ökonomische Basis, existiere aber noch als Zombie kraft fortwirkender Selbstversklavung der Menschen, die ihm Jahrhunderte lang unterworfen waren und sich jetzt einfach nicht vorstellen können, dass das vorbei ist: "Es handelt sich weder um ein materielles noch um ein technisches oder organisatorisches Problem, sondern allein um eine Bewußtseinsfrage."
Was tun? Hier die Antwort: "Sich einfach versammeln und die Dinge in die eigene Hand nehmen, ohne sich länger von der kapitalistischen Menschenverwaltung kujonieren und auf lächerliche Notrationen ohne Not setzen zu lassen - nur darin kann die Entfesselung der 'bösen Horizontale' sich darstellen".
Das ist die dritte Utopie: der Kapitalismus ist vorbei, und nur Robert Kurz hat es bemerkt. Diese Variante ist allerdings alt und wurde bereits von Marx (zum Beispiel an Wilhelm Weitling) kritisiert, nicht weil er im liberalen Kult der abstrakten Arbeit befangen blieb, sondern weil er, anders als der Autor, wusste, dass eine Sache nicht dadurch aus der Welt geschafft wird, dass wir sie uns wegwünschen.