Notwendige Freiheit und hilfreiche Einsamkeit

Der von Alf Lüdtke und Reiner Prass herausgegebene Sammelband "Gelehrtenleben" beleuchtet Aspekte wissenschaftlichen Arbeitens in der Neuzeit

Von Berndt TilpRSS-Newsfeed neuer Artikel von Berndt Tilp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Max Weber ist das nicht ermutigende Wort aus seinem berühmten Vortrag "Wissenschaft als Beruf" zum Weg des Gelehrten überliefert, nach dem es wohl überlegt sei, sich überhaupt den Bedingungen einer akademischen Laufbahn auszusetzen: "Er muß es mindestens eine Anzahl Jahre aushalten können, ohne irgendwie zu wissen, ob er nachher die Chance hat einzurücken in eine Stellung, die für den Unterhalt ausreicht." Gleichwohl haben sich vor und nach Weber Menschen für diesen Weg entschieden. Mit dieser Berufsgruppe - über Fächergrenzen hinweg - beschäftigt sich ein Sammelband, der auf eine Tagung der "Arbeitsstelle Historische Anthropologie" an der Universität Erfurt im Oktober 2004 anlässlich des 65. Geburtstages von Hans Medick zurückgeht.

Der in die Sektionen "Lebensläufe im Kontext", "Schreiben als Lebensentwurf", "Selbstbeobachtungen" und "Kulte gelehrte Lebens" unterteilte Band fokussiert dabei aufgrund der Veröffentlichungen von vor allem Mitarbeitern der Erfurter Arbeitsstelle und damit auch des akademischen Mentors Hans Medick epochenspezifisch vorrangig auf die Frühe Neuzeit und einzelne Beiträge zu aktuellen Themenstellungen sowie grundlegende Überlegungen zur Gattung "Autobiographie". Dabei zeigen sich anthropologische Konstanten und Brüche über die Jahrhunderte hinweg, die vor allem dann an Brisanz gewinnen, wenn es um die kritische Aneignung aktueller Verhältnisse in academia nach der deutschen Wiedervereinigung geht. Es verhalten sich Wissenschaftler und wissenschaftliche Institutionen vor diesem geschichtlichen Tableau zueinander nicht so, wie es eine offiziöse Geschichtsschreibung darstellen will und es ist deshalb besonders eindrucksvoll zu sehen, wie (auto-)biografische Schriften produktiv gegen sie gehalten werden können (Hans Medick, Jan Peters). In der perspektivischen Vergegenwärtigung des Vergangenen wird versucht, einen einheitlichen Sinnzusammenhang der eigenen Vita darzustellen. Dies kommt nicht nur hier, sondern auch und gerade dann ans Licht, wenn ein Gelehrter wie etwa der Orientalist Edward Said in seiner Autobiografie das Akademische mit politischer Relevanz verknüpft und so zu einem äußerst streitbaren öffentlichen Intellektuellen wird (Birgit Schäbler). Sei es weiter die Ladung der academic novel als Schlüsselroman (Rudolf Dekker), sei es der Kult um Max Weber und Ludwig Wittgenstein (Vasilios Makrides), sei es Alfred Hitchcocks Darstellung des Gelehrten in "North by Northwest" (Holt Meyer), seien es genderspezifische und reflexive Aspekte in Produktion und Rezeption von Biografischem, wie im Fall von Max Weber, Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein (Theresa Wobbe, Heidrun Friese, Andreas Bähr) - die Einzelbeiträge beschäftigen sich mit einem breitem Spektrum an Themen und Autoren im Umfeld der déformation professionelle.

Der dominante personelle Bezug der Beiträge unterschlägt dabei nicht die Schnittstellen zwischen Individuum, Institution und Zeitgeschichte, auch wenn mehr als ein Seitenblick auf den "Großbetrieb der Wissenschaft" als Bezugspunkt moderner Wissenschaft und seine Reflexion gewinnbringend gewesen wäre. Der institutionalisierte Gelehrte verhindert per se den freien Blick auf gescheiterte Forscher - insbesondere im Vorfeld dieses sich ausdifferenzierenden Funktionsbereichs nach der Reichsgründung 1871 - es sei hier nur an den Goethephilologen Heinrich Düntzer erinnert, der nicht nur aus disziplinären Gründen zeit seines Lebens aus der scientific community ausgeschlossen war und deshalb einem alternativen Netzwerk um Karl August Varnhagen von Ense noch in seinem Lebensrückblick "Mein Beruf als Ausleger" ein Denkmal zu setzen wusste.

Weder Personengeschichtsschreibung allein noch eine strukturelle Betrachtung ohne Berücksichtigung der Akteure erreichen - ebenso wenig übrigens wie ideologiekritische Untersuchungen, die die Geistes- und Mentalitätsgeschichte nur als politischen Supersignifikanten sehen - einen wissenschaftsgeschichtlichen Zugewinn. Es bleiben einerseits sozialhistorische und wissenschaftssoziologische Erklärungen den geistigen Konstellationen äußerlich und der biografische Zugriff verdrängt andererseits neben der wünschenswerten Berücksichtigung der Gesamtentwicklung von akademischen Disziplinen auch die methodische Reflexion. Gerade die Beschäftigung mit (Auto-)Biografik ermöglicht dabei die Wahrnehmung dieser Gattung als mehr als bloßes Lebenszeugnis, insofern ihr zusätzlich Wert als ästhetisch gestaltete Form zukommt. Das Spannungsfeld zwischen ästhetisch unzulänglichem Dokument und biografisch oszillierendem künstlerischen Produkt, das auch und vor allem für die Gattung Tagebuch und Brief gilt, dekonstruiert den Bildzusammenhang einer Person in mehrere Identitäten, denen ein bloß biographischer Verweiszusammenhang nicht gerecht werden kann. Diesen Mehrdeutigkeiten wird der Band weitestgehend gerecht und indem er die besprochenen Selbstzeugnisse als schillernde Individualquellen behandelt, eröffnet er in der Tat neue Zugänge, um - wie in der Anzeige der Reihe erwähnt - "die historischen Akteure als empfindende und wahrnehmende, leidende und handelnde Personen" zu zeigen. Dass sie auch gestaltende Individuen sind, denen unter Umständen Fakten zu Fiktionen werden, sollte man dabei nicht außer Acht lassen.


Titelbild

Alf Lüdtke (Hg.) / Reiner Prass: Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
280 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783412219062

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