Die Unlesbarkeit der Beschneidung

Dem 'Randgänger der Philosophie' Jacques Derrida zum 70. Geburtstag

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Als Jacques Derrida am 23. Juni auf Einladung von Jürgen Habermas im traditionsbehafteten Hörsaal VI der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt über die Zukunft einer "unconditional university" und der Humanwissenschaften sprach, kam dies einer Sensation gleich. Spätestens seit Habermas' Diktum, Derrida bleibe, "trotz aller Dementis, der jüdischen Mystik" nahe und schiebe "Politik und Zeitgeschichte [...] ab, um sich desto ungebundener und assoziationsreicher im Ontologisch-Urschriftlichen tümmeln zu können", weiß man um das prekäre Verhältnis der Nachfahren der Frankfurter Schule zum Dekonstruktivismus. Besonders die mittlerweile legendäre Rezeption des Dekonstruktivismus in den Vereinigten Staaten hat Derrida zu einem der berühmtesten, zugleich aber auch umstrittensten Philosophen des 20. Jahrhunderts werden lassen. In der europäischen Rezeption überwog lange Zeit ein Misstrauen gegen die spielerischen und rhetorischen Elemente in Derridas Werk, das selbst vor dem Vorwurf des Irrationalismus und des Antihumanismus nicht gefeit war.

In Frankfurt stellte sich Derrida mit seinem Plädoyer für die Freiheit von Lehre und Forschung in die Tradition der Aufklärung von Kants Streit der Fakultäten, über Nietzsches Ausführungen in Die Zukunft unserer Bildungsanstalten bis hin zu Heideggers, von Derrida immer wieder zum Gegenstand des Nachdenkens gemachten Rektoratsrede vom Frühjahr 1933 (Die Selbstbehauptung der deutschen Universität). Die unbedingte Universität soll daher der Ort sein, an dem Dekonstruktion in den "new humanities" betrieben wird: als Frage nach dem Menschen und nach einer ethischen Begründung von Menschlichkeit, aber vor allem auch als Modell des Wissens im Zeitalter der mondialisation. Mag es auch inzwischen nicht mehr passend erscheinen, den Dekonstruktivismus mit einem "Faschismus"-Vorwurf zu belegen, wie dies einst Frank Schirrmacher angesichts der Entdeckung antisemitischer Texte des jungen Paul de Man in der FAZ tun zu müssen glaubte, so ist Derridas Werk gerade in Deutschland noch lange nicht akzeptiert. Dabei wurde immer wieder gerne übersehen, daß Derrida seine dekonstruktive Methode nicht nur als Schrift- und Lektüre-Modell, sondern vor allem als politische Praxis, als Hinterfragung von Machtverhältnissen, verstanden hat. Der Dekonstruktion -darauf hat Derrida in Frankfurt nachhaltig verwiesen- geht es nicht nur um Kritik an und Subversion von kanonischen Diskursen und Semantiken, sondern auch um die Neukonstituierung gesellschaftlichen Sprechens angesichts des Zerfalls überkommener politischer Theorien und der Transformation der Kultur in eine Matrix multi-medialer Ereignisse.

Derrida ist am 15. Juli 1930 in der französischen Kolonie Algerien geboren. 1942 wurde ihm -als Sohn einer jüdischen Familie- entsprechend einer Verordnung des Vichy-Regimes der Schulbesuch untersagt. Diese Verletzung der Menschenrechte und vor allem das Datum der Shoah haben sich zusammen mit einem immer wieder umkreisten Gefühl einer Zugehörigkeit zum Judentum tief in sein Denken eingegraben. Bis in jüngste Veröffentlichungen sind daher besonders jüdisch-messianische Motive für Derridas Texte konstituierend geblieben, zumal er mehrere Jahre seiner Lehrtätigkeit an der École Normale Supérieure und an der École des Hautes Ètudes en Sciences Sociales in Paris deutsch-jüdischen Philosophen wie Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Gershom Scholem gewidmet hat. In mittlerweile publizierten Gesprächen nennt Derrida zudem die Psychoanalyse und den Marxismus sowie die lebenslange Auseinandersetzung mit Hegel, Husserl, Nietzsche und Heidegger als Wegmarken seiner intellektuellen Auseinandersetzungen.

Das frühe Denken Derridas ist im wesentlichen von einer Philosophie der différance geprägt, die an die Kritik des identifizierenden Denkens, wie sie von Adorno entwickelt worden ist, und an de Saussures Betonung der Differentialität der sprachlichen Zeichen anknüpft und diese radikalisiert. Das System der sprachlichen Differenzen ist bei Derrida nicht mehr stabil und an relativ fest zuschreibbare Signifikate gebunden, sondern wird als Prozeß des ständigen Sich-Unterscheidens und Aufeinander-Verweisens von Signifikanten aufgefaßt, als ein Spiel der Differenzen ohne Zentrum und Telos, das gleichwohl selbst die einzige Grundlage von Sprache und Bedeutung darstellt. Das Kunstwort der différance soll die fundamentale Priorität der Schrift vor der gesprochenen Sprache demonstrieren, die Derridas Anliegen der drei Aufsehen erregenden Bücher von 1967 ist ("La voix et le Phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl", "De la grammatologie", "L'écriture et la différence"), die seit Anfang der siebziger Jahre bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung vorliegen. Die différance macht sich die Doppelbedeutung des Verbs différer ('sich unterscheiden', 'aufschieben') zunutze, und verweist auf einen in der Schrift sich vollziehenden Aufschub und damit auf den räumlichen und zeitlichen Aspekt der sprachlichen Zeichenaktivität als endloser Produktion von Differenzen, die zugleich keine Präsenz und keine eingrenzbare Identität und Sinnhaftigkeit von Text und Bedeutung mehr zulassen. Dem heftig bekämpften Logozentrismus hält Derrida die Idee der Nachträglichkeit, des Supplements, aber auch der bricolage entgegen, die er mit Hilfe von Heideggers und Benjamins Zeit-Begriff, von Freuds Wunderblock-Modell oder Lévi-Strauss' ethnologischem Strukturalismus entwickelt.

Die Perspektive, von der aus Derrida denkt, ändert sich ständig. Sie wird mitbestimmt von dem jeweiligen Gegenstand, um den es geht. Wie Heidegger das Ungedachte der metaphysischen Tradition denken will, den Grund, von dem aus sie gedacht ist, so will Derrida auf dem Rand der traditionellen Texte und im Zwischenraum des Geschriebenen schreiben. Man könnte dies als einen mehrstufigen Kommentar betrachten, wenn es einer festeren Ordnung unterläge und wenn es nicht von einer immer auch negativen Absicht geleitet wäre. Mit Heidegger und nach Heidegger weiter denkend erfaßt Derrida "das Verborgene" der metaphysischen Tradition auch als das "Verdrängte" im Sinne Freuds. Es ist indessen fundamental wichtig, daß die Schrift materiell gegeben und damit auf vielfältige Weise interpretierbar ist. Keine Interpretation erfaßt ihre Bedeutung vollständig, jede Deutung ist auch Verdeckung.

Auch wenn sich Derrida immer wieder eine "Unbildung hinsichtlich des Judentums" ("es trifft sich, daß ich kein oder kaum Hebräisch spreche, ich kenne die jüdische Geschichte oder die Texte der jüdischen Kultur sehr schlecht") zu-schreibt, bewegt er sich ständig in der metaphorischen, rhetorischen und allegorischen Dimension jüdischen Denkens. Nicht nur in den philosophischen Hypertexten "Glas" (1974) und "Derridabase/Circonfession" (1991, gemeinsam mit Geoffrey Bennington), sondern auch in vielen anderen Texten Derridas wird man mit einer 'Doppelseitigkeit' der Texte konfrontiert, die durchaus Assoziationen mit der Struktur einer Seite des Talmuds erlaubt, wo eine Zeile Text in der Mitte der großen Folioseite rechts und links von Kommentaren aus allen Zeiten überrandet ist. Derridas grammatologisches Konzept der Ur-Schrift (archi-écriture; archi-trace), deren Spuren um so mehr Interpretationen hervorrufen, je unkenntlicher sie werden, ist das einer exilierten, ihres eigenen Sinnes entfremdeten Schrift. Das ästhetische Sprachparadigma der Kabbala erweist sich im Sinne seiner dekonstruktiven Umformulierung als Modell einer nachmetaphysischen Theorie des Textes und der Lektüre, die allerdings mit der mystischen Tradition der hebräischen Kabbala seit dem 12. Jahrhundert kaum mehr etwas gemeinsam hat. Zu den in diesem Sinne 'kabbalistischen' Kategorien, die die Sprache in ihrer semiotischen Materialität als Schrift aufwertet, gehören Text (an Stelle von Werk), Schrift (an Stelle von Stimme), Buchstabe (an Stelle von Zeichen), Lektüre (an Stelle von Interpretation) und schließlich Grammatologie (an Stelle von Hermeneutik).

Die Metapher des Exils erweist sich damit als die Beschreibungsform der nachmetaphysischen Sprachsituation. Das Exil ist aber zugleich auch die nicht-metaphorische Beschreibung einer jüdischen Sprachsituation, wie sie Derrida jüngst in "Le monolinguisme de l'autre" (1996) entwickelt hat. An Rosenzweig, Scholem, Lévinas, Kafka und Celan erörtert er die "dé-propriation de la langue attribué au 'peuple juif'", die Unmöglichkeit einer eigenen Sprache. Das Exil beschreibt hier "la question des Juifs et de 'leur' langue étrangère" als eine eminent politische Frage, während die Schrift-Metapher des Exils im katastrophischen Blick auf die Leerstelle des göttlichen, transzendentalen Signifikats verweist. Was sich in diesem Durchgang durch den Text der Tradition meldet, ist eine stille Öffnung der Texte: Es sind Brüche, Spuren, weiße Flecken, die auf das absolut Andere vorausweisen. Sie sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als "points de suspension", Wegmarken eines Schweigens, das sich von ihm selbst her nicht zu äußern vermag. Aus Derridas Radikalisierung der Spracherfahrung lassen sich zwei Schlüsse ziehen: 1. Der Text existiert einzig in einem Kontinuum von Texten, wobei der Vorgänger-Text in den nachfolgenden transformiert wird (Intertextualität). 2. Der Text präsentiert keine Sinnganzheit, da seine konstitutiven Elemente allesamt Spuren und damit nicht-repräsentierbare Einheiten sind. Folglich ist der Text in dekonstruktiver Lesart ein Gewebe, das aus Spuren von Spuren besteht. Mit diesem radikalen Text-Begriff hat Derrida in "Glas", in "La dissémination" (1972), vor allem aber in seinem "jüdischsten" Buch "Schibboleth - pour Paul Celan" (1986) und in "La carte postale de Socrate à Freud et au-delà" (1980) experimentiert. Zugleich mischt sich Derrida immer wieder auch in postmoderne Kunst- und Literaturdebatten ein, wie seine Arbeiten zu Kunst, Musik, Photographie, Architektur und Technik, zuletzt etwa die "Mémoires d'aveugle. L'autoportrait et autres ruines" (1990), eindrucksvoll zeigen. Erstaunlich dabei ist vor allem, daß Derrida im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre eine erstaunliche Vervielfältigung der Themenfelder und Fragestellungen, aber auch der Rede- und Schreibstile erkennen ließ, wobei seine Philosophie damit auch neue Denkräume erschlossen hat. Diese seien stichwortartig skizziert.

1. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Beschäftigung mit der phänomenalen Erfahrbarkeit und der epistemischen Denkbarkeit des Anderen ist Ausdruck einer über 40 Jahre andauernden Auseinandersetzung Derridas mit der jüdischen Ethik von Emmanuel Lévinas (zuletzt in "Adieu à Emmanuel Lévinas", 1997). Die in diesem Zusammenhang erkennbare Aufnahme und Neugestaltung von Topoi wie Gabe, Gesetz, Gerechtigkeit, Gastfreundschaft, Freundschaft, Geheimnis und Zeugnis hat auch die Frage nach einer eigenständigen "Ethik der Dekonstruktion" laut werden lassen (vgl. hierzu die "Politiques de l'amitié", 1994).

2. Nach dem Zusammenbruch des "real existierenden" Sozialismus im Jahr 1989 wurde der Diskurs über Marx abrupt abgebrochen und erhielt eine 'gespenstische' Realität. Zu dieser Tendenz baut Derrida in seinem Buch "Spectres de Marx" (1993) einen Gegen-Diskurs auf, der nicht nur die theoretische Weiterarbeit an diesem Thema initiieren will, sondern sich vor allem der Frage einer "Neuen Internationalen" widmet, die ihren Bezugspunkt in einer Politik der Verantwortung fände. Das Erbe jüdischen Denkens in Marx' Auffassungen sucht Derrida auf der Höhe des dekonstruierenden Umgangs mit dieser Tradition zu bewahren, indem er die Trope der Messianik (messianique) einführt, die er explizit vom Messianismus zu unterscheiden sucht. Diese Messianik ist der bleibende Ausdruck eines "emanzipatorischen Versprechens", da es in der Zukunft um die Leitideen der Gerechtigkeit und der radikalen Demokratie gehen soll. Hiermit untrennbar verbunden ist die auch in Frankfurt vorgestellte Kategorie des "As if", die sich einer Re-Lektüre des kantischen "als ob" verdankt und Platzhalter des Messianischen in Gestalt des unerwarteten Anderen ist. Die Philosopie des Als-Ob ist damit auch eine jüdische Philosophie.

3. Die bereits in einem frühen Text zu Edmond Jabès in "L'écriture et la différence" skizzierte Meditation über das "Jüdisch-Sein" nach der "répétition nazie" meldet sich beim 'späten' Derrida vor allem in Fragen der Rasse, der Nation und der Religion verstärkt zu Wort. Derrida thematisiert seine Zugehörigkeit zum Judentum und erhebt sie zum Argument: Die Besessenheit, mit der Derridas Schriften den Resten, den Spuren der Zeugen und des Zeugnis-Gebens, dem aus dem System Ausgeschlossenen nachgehen, markiert den stummen Punkt, den blinden Fleck, um den sein Nachdenken und Schreiben kreist. Obwohl die Denkwege Derridas zweifelsohne von Rissen und Brüchen mit der Tradition durchsetzt sind und sich im Verhältnis zu dieser Tradition auf Randgängen bewegen, darf nicht vernachlässigt werden, daß diese Tradition nicht so ohne weiteres verlassen, negiert oder auch nur transformiert werden kann. In engem Zusammenhang dazu steht die Beobachtung, daß Derridas écriture von "Glas" über "La carte postale" und "Schibboleth" bis hin zu "Circonfession" und "Mal d'Archive" (1995) um das Geschehen der Beschneidung (circoncision) kreist, wobei er immer zugleich das Corpus seiner Schriften meint, das mit umkreist und beschnitten wird: "Circoncision, Beschneidung, nie habe ich über etwas anderes gesprochen, denken Sie an die Rede über die Grenze, die Ränder, Marken, Stufen usw., die Umfriedung (clôture), den Ring (Bündnis und Gabe), das Opfer, die Schrift des Körpers, den ausgeschlossenen oder ausgestrichenen Pharmakos". Immer handelt es sich bei der fundamentalen Unlesbarkeit der Beschneidung auch um eine "undenkbare Wahrheit der lebendigen Erfahrung", um eine "Wunde in der Sprache" (im Hebräischen ist mijlah, die Beschneidung, und milah, das Wort, nur durch ein Yod unterschieden) und um die Un-Logik der Aporie (vgl. hierzu "Apories. Mourir - s'attendre aux limites de la vérité, 1996): "Ein Werk ist gleichzeitig die Ordnung und ihr Ruin. Die sich beweinen." Das Eigene ist für Derrida nur unter der steten Drohung seiner Zerstreuung und Ent-aneignung denkbar. Damit wird die Frage nach dem Namen des Namens ausgesprochen, die besonders in der jüdischen Tradition als die Frage nach dem Namen Gottes gedacht wird. Daß dieser Name unnennbar ist, hat Derrida in früheren Texten, etwa in "Comment ne pas parler. Dénégations" (1987) erörtert. Gleichzeitig ist diese Idee Gegenstand des fiktiven Gesprächs in "Sauf le nom" (1993), in dem Derrida den Namen als Schnittpunkt der Singularität einer einzelnen Person und ihrer Zugehörigkeit zu einem Allgemeinen (einer Familie, einem Volk, der Gattung Mensch) benennt.

In einem gemeinsam mit Gianni Vattimo veranstalteten Sammelband "La religion" (1996), bestimmt Derrida "Glauben und Wissen" als durchaus verschieden, aber nicht länger als Gegensatz, indem er die Religion in kantischem Gestus "innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" zu denken sucht. Der 'historischen' Gestalt der Religion liegen dabei zwei Erfahrungen zugrunde, die dekonstruiert werden sollen: Hegels "christliche Onto-Theologie" als einer ins "absolute Wissen" überführten "Erfahrung des Glaubens", die Nietzsches These vom Tod Gottes zu trotzen vermag, und Heideggers meta-religiöse, ursprüngliche Erfahrung des Heiligen, die sich dem rational-wissensmäßigen Zugang nicht erschließt. Dem setzt Derrida ein mitunter bizarr anmutendes Bündnis des Christentums, als Erfahrung des Todes Gottes, mit dem "tele-techno-szientistischen Kapitalismus", das Derrida "mondiale Latinisation" nennt, entgegen. Nicht von ungefähr findet dieses Bündnis in einer Derridas gesamte Schriften umfassenden Beschäftigung mit dem Tod als radikalste Aporie des Daseins seinen wichtigsten Ausdruck, womit sich der dekonstruktive Begriff der Erfahrung als Leben-im-Tod reformulieren läßt.

Literaturkritik.de wird in den nächsten Ausgaben und dann in unregelmäßigen Abständen auch später -neben etlichen Arbeiten über Derrida - vor allem Übersetzungen jüngerer Schriften von Derrida ins Deutsche vorstellen und damit einen Eindruck zu vermitteln suchen von der thematischen Weite und Offenheit des Denkens Derridas, der zum Verdruß einer nicht geringen Anzahl deutscher Philosophen immer ein 'Randgänger' geblieben ist. Vorläufig ist geplant, folgende Titel zu besprechen: