Anatolische Grenzerfahrungen
Christopher de Bellaigues "Rebellenland" handelt vom Konfliktherd in der Südosttürkei
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Eine Reise an die Grenzen der Türkei": Der deutsche Untertitel von Christopher de Bellaigues neuestem Buch "Rebellenland" ist vom Verlag geschickt ausgewählt. Denn schnell wird bei der Lektüre klar, dass der Autor von "Im Rosengarten der Märtyrer" (2006) nicht nur eine Tour nach Anatolien und in die Grenzregionen zum Irak, Iran und zu Armenien unternimmt, sondern mit seinem neusten Buch auch an die politischen und ideologischen Demarkationslinien der modernen, von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten republikanischen Türkei gelangt.
Wie kommt er dazu? Der Brite, der viele Jahre in Istanbul gelebt hat, schrieb Ende der 1990er-Jahre für die "New York Review Of Books" einen Artikel über die Geschichte der Türken vom späten 19. Jahrhundert bis zum Tod von Atatürk 1938. Nach einem Jahr Verzögerung erschien der Text und schlug insbesondere unter den Armeniern und den ihnen freundlich gesinnten Historikern hohe Wellen, da er ihrer Meinung nach die Geschehnisse rund um die Deportationen der damals in Ostanatolien lebenden Christen nur auf türkische Quellen stützte und dementsprechend eine Verharmlosung der ganzen Ereignisse vornahm.
Die harschen Reaktionen erstaunten den mittlerweile im Iran lebenden und arbeitenden Journalisten. Im Verlauf mehrerer Jahre reifte in ihm der Entschluss, nach Anatolien zu fahren und sich selbst ein Bild von der Geschichte als auch der Gegenwart der Region zu machen. Zu diesem Zeitpunkt bemühte sich die Regierung in Ankara gerade wieder verstärkt darum, in die EU aufgenommen zu werden. Die Forderung der Kommission in Brüssel nach einer Stärkung der Minderheitenrechte in der Türkei, in erster Linie der Kurden und Aleviten, aber auch der wenigen verbliebenen Armenier, verdeutlichte de Bellaigue dabei, wie aktuell die Historie gerade im Südosten des Landes ist. Der Brite machte sich daher auf, um vor Ort die bestehenden nationalen (Gründungs-) Mythen der Türkei auseinander zu nehmen, die Opfer der "Ein-Volk-Politik" ausfindig zu machen und ihnen eine Stimme zu verleihen, schließlich auch die "Geschichtsfälscher" bekannt zu machen und ihre Lügen aufzudecken.
Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für seine Recherchen stößt der Journalist auf eine Stadt, die er bereits von früher kennt: Varto liegt südlich von Erzerum und westlich vom Vansee und damit also so ziemlich genau in der Mitte Ostanatoliens. Hier kreuzen sich auch die Schicksale der Türken und Armenier, der Kurden und Aleviten. Herzlich wird der Brite dort nur von sehr wenigen Menschen empfangen. Zu groß ist das Misstrauen gegen einen westlichen Reporter, der ausgerechnet im Nachbarland Iran lebt. Abwechselnd wird er für einen englischen Spion, dann für einen Mann der eigenen Regierung und schließlich für einen Nachfahren der einst dort lebenden Armenier gehalten. Kein Wunder also, dass sich die Nachforschungen auf diesem in vielerlei Hinsicht verminten Gebiet mehr als schwierig erweisen.
Unter ständiger Bewachung der örtlichen Behörden versucht de Bellaigue den Einheimischen Geschichten und Geheimnisse aus der Vergangenheit zu entlocken: So über die Christen, die früher in der Gegend gewohnt haben - genauer bis zum Jahr 1915, als sie aufgrund des - größtenteils nicht unbegründeten - Verdachtes der Kollaboration mit dem russischen Gegner durch die Osmanen in die mesopotamische Wüste deportiert wurden. Der Journalist rekonstruiert die Aktionen der auf Befehl der Jungtürken agierenden kurdischen Hamidiye-Regimenter gegen die Armenier und zeichnet dabei im Laufe der Kapitel ein Bild des Grauens - und zwar auf beiden Seiten.
Denn de Bellaigue versucht in seiner Darstellung der Vorgänge möglichst objektiv zu sein. So zeigt er auch Fälle auf, in denen Christen von muslimischer Seite geholfen worden ist und schreibt: "Wenn, und das scheint unbestreitbar zu sein, armenische Banden während des Ersten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Tausend Moslems abgeschlachtet haben, dann muss man es als seltsam empfinden, dass ein so hochkarätiger armenischer Gelehrter wie Vahakn Dadrian in seiner ausladenden und viel gelesenen 'Geschichte des armenischen Genozids' kein Wort zu diesem Thema verliert. Tut er das, weil die Türken und Kurden erheblich mehr Menschen umgebracht haben? Oder wäre es Dadrian, der mit so viel Mühe das Gemälde des armenischen Todeskampfes zeichnet, peinlich eizugestehen, dass seine Landsleute ihrerseits anderen Tod und Verderben brachten."
Doch so sehr er sich auch bemüht, allen Seiten gerecht zu werden, in "Rebellenland" gerät der Brite auch an seine eigenen Grenzen. Denn er macht einen Fehler, indem er nämlich - wie viele bereits vor ihm - den Anfang seiner Untersuchungen auf das Jahr 1915 setzt und sich nur sehr knapp mit den Ereignissen im Osmanischen Reich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Daher kann er die Frage, weshalb es kurz nach dem Kriegseintritt der Hohen Pforte zu den Deportationen kommt, auch nur teilweise befriedigend beantworten.
Besser, das heißt tatsächlich objektiver gelingt der zweite Teil von "Rebel Land". Der Autor verschiebt den Fokus von den Armeniern auf die Kurden und Aleviten, und kann, da die Bevölkerungsmehrheit in Ostanatolien heute aus diesen beiden Gruppen besteht, seine Untersuchungen und Behauptungen auf viel mehr lebende Augenzeugen stützen. De Bellaigue zeichnet dabei die Geschichte der Kurden nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach. So erklärt er ihren Kampf gegen den modernen türkischen Staat mit ihrer Enttäuschung, die durch Atatürks Wortbruch, ihnen nach dem siegreichen Kampf gegen Griechen und Armeniern eine autonome Region zuzugestehen, entstanden sei - davor aber auch schon durch den Verrat der Briten, die ihnen im Friedensvertrag von Sèvres (1920) ebenfalls eine gewisse Autonomie zugesagt, später aber davon nichts mehr hätten wissen wollen.
Der Journalist stellt ausführlich den Kampf der Kurden gegen den türkischen Staat dar, dessen kemalistische Idee vom Vorhandensein nur eines, nämlich des türkischen Volkes im Land ein friedliches Nebeneinander der verschiedenen Ethnien und Glaubensausrichtungen des Islam bis heute unmöglich mache. Vom Scheich-Said-Aufstand im Jahre 1925 bis zu den Aktionen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Verhaftung ihrer Führers Abdullah Öcalan reicht dabei die dargestellte Epoche. "Rebellenland" zeigt sich in dieser Hinsicht als sehr informativ und lehrreich. Dass dabei die Sprachkenntnisse des Autors für die Dichte des Buches nur von Vorteil gewesen sind, ist nicht zu leugnen, hat er doch auch ansonsten nur in türkischer Sprache vorhandene Geschichtswerke verschiedener politischer und ideologischer Couleur in die Diskussion um die Vergangenheit und Gegenwart der Türkei mit einbezogen.
So ausführlich und erhellend "Rebellenland" bezüglich der Geschichte und Politik auch ist, versäumt es de Bellaigue allerdings, die wirtschaftlichen Aspekte des Konfliktherdes in Ostanatolien zu thematisieren. Schließlich befindet sich der türkische Teil von Kurdistan fast genau in der Mitte des geostrategisch bedeutenden Nahen Ostens. Syrien, der Irak und Iran grenzen an dieses Gebiet. Alle drei Staaten besitzen nicht nur selber jeweils einen mehr oder weniger großen kurdischen Bevölkerungsanteil, sondern sehen Südostanatolien auch als einen wichtigen Kreuz- beziehungsweise Transitweg. Bedeutender als ihre Interessen sind die der beiden Großmächte USA und Russland. Während sich Washington für die Zukunft ein befriedetes Türkisch-Kurdistan wünscht, um die Öl- und Gaspipelines aus Aserbaidschan über Georgien entweder an die türkische Schwarzmeer- oder Mittelmeerküste zu führen. So erhofft sich Moskau dagegen eine permanente Krisenstimmung in dieser Region, um die heimische Pipelinewirtschaft zu stärken und auszubauen respektive um in der Frage der Versorgung des Westens mit kaspischen Rohstoffen weiterhin seine Monopolstellung zu bewahren.
Das Fazit fällt zweigeteilt aus: de Bellaigues "Rebellenland" ist ein gut recherchiertes Sachbuch über fast ein Jahrhundert der Konflikte in Ostanatolien, das vor allem zeigt, dass die Historie in dieser Region noch tief in die Gegenwart reicht. So wird ziemlich deutlich, dass die unterschiedlichen Interessen der Türken und Armenier, Kurden und Aleviten sehr differente Bilder von den Geschehnissen um die Deportation der Christen im Ersten Weltkrieg und um die Autonomiebestrebungen der Kurden haben entstehen lassen.