Im literarischen Wunderland

Irmela Hijiya-Kirschnereit veröffentlicht in "Ausgekochtes Wunderland. Japanische Literatur lesen" Essays zum Verständis einer fernen Kultur

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die berühmten ersten Sätze des Romans "Schneeland" von Kawabata Yasunari, dem ersten Literaturnobelpreisträger Japans, 1948 in der japanischen Erstausgabe erschienen, lauten in der deutschen Übersetzung Oscar Benls von 1957: "Als der Zug aus dem langen Grenztunnel herauskroch, lag das Schneeland vor ihm. Die Nacht wurde weiß bis auf den Grund. An der Signalstation hielt der Zug."

Die Neuübersetzung von Tobias Cheung, 2004 in der "Bibliothek Suhrkamp" erschienen, übersetzt hingegen: "Jenseits des langen Tunnels erschien das Schneeland. Der Nacht Tiefe wurde weiß. Die Dampflok hielt an einem Signal."

Es liegen zwar keine Welten zwischen den beiden Übersetzungen. Die gemeinsamen Konturen sind zu erkennen. Aber die Unterschiede in der Diktion, der poetischen Symbolik, selbst der puren sachlichen Information sind beträchtlich.

Das Beispiel kann die Schwierigkeiten illustrieren, die noch heute die Vermittlung japanischer Literatur bereitet, nach inzwischen zwei Nobelpreisen für die japanische Literatur (Kawabata 1968, Oe Kenzaburo 1994), nach dem Japan-Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse 1990 und dem Erscheinen bedeutender japanischer Reihen in diversen deutschen Verlagen. Die angesehene deutsche Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit, eine der wichtigsten Multiplikatorinnen japanischer Kultur und Literatur im deutschsprachigen Bereich, Professorin an der Freien Universität Berlin, übt in ihrem essayistischen und literaturkritischen Panorama zumal der japanischen Gegenwartsliteratur harsche Kritik an der Neuübersetzung. Sie rügt eine "nicht notwendige Lesesperrigkeit", die Verwechslung der Treue zum Originaltext mit einer Rohübersetzung, exotisierende Elemente, auch sprachliche Verschlimmbesserungen der Schnitzer der Erstübersetzung, und kommt zu dem vernichtenden Urteil: "Mit dieser Übersetzung wäre Kawabata kaum für den Nobelpreis nominiert worden".

Allerdings redet die Kritikerin keineswegs einer generellen Übersetzungsskepsis das Wort. Sie erinnert daran, dass in Japan, neben Deutschland im Weltmaßstab das führende Übersetzerland, beispielweise nicht weniger als dreißig Übertragungen des Goethe'schen "Werther" unternommen worden sind. Aber man darf sich auch freuen, dass bereits 1847, also noch vor der erzwungenen Öffnung Japans, die erste deutsche Übertragung japanischer Literatur von August Pfizmaier vorgelegt worden ist. Man kann und man darf sich also auch weiterhin im Kulturtransfer mühen.

Der Titel von Hijiya-Kirschnereits Lektüreanleitung "Ausgekochtes Wunderland. Japanische Literatur lesen" spielt auf Murakami Harukis Roman "Hard-Boiled Wonderland" an. Die "ausgekocht"-coole japanische Pop-Literatur der Gegenwart, die mit Murakami und Yoshimoto Banana das traditionelle exotische Klischee japanischer Kirschblütepoesie rundum revidiert hat - Hijiya-Kirschnereit spricht von einem "Haruki-Banana-Phänomen" - findet denn auch einige Beachtung. Ohnehin sind hier wie in anderen Literaturen die Grenzen zwischen unterhaltender und "reiner" Literatur fließend.

Doch es spricht für die Weiträumigkeit dieses Panoramas, dass neben der Gegenwartsliteratur auch die über tausendjährige japanische Lyriktradition und die Literatur der klassischen Moderne zu Wort kommen. Die dokumentierten Buchbesprechungen zumeist aus der "Frankfurter Allgemeinen" - ein Publikationsnachweis fehlt - befassen sich mit den großen Namen: Akutagawa Ryunosuke, Inoue Yasushi, Mishima Yukio. Sie leisten aber auch bei Autoren, die dem deutschen Publikum noch unbekannt sind, wesentliche Vermittlungsarbeit, etwa bei Okuizumi Hikarus Kriegs- und Trauma-Roman "Das Gedächtnis der Steine" oder Abe Kobos absurd-komischem Penner-Roman "Der Schachtelmann". Die Rezensionen haben einen Vorzug, den der professionelle, aber - Gott sei es geklagt! - japanologisch dilettierende, auf die Übersetzungen angewiesene Buchkritiker nicht hat: Die sprachlichen, historischen und literaturwissenschaftlichen Spezialkenntnisse werden der Literaturkritik nutzbar gemacht.

Der Essay-Teil der Sammlung, der durchweg auf Nachworte der Autorin zu den von ihr betreuten Editionen zurückgeht, zeichnet an konkreten literarischen Beispielen die großen Themen nach, beispielsweise das Verhältnis von Exotik und Anti-Exotik an Tanizaki Junichiros "Geheimer Geschichte des Fürsten Musashi", "japanische Jahrhunderterfahrungen" an Ooka Shoheis Roman "Feuer im Grasland", Japans berühmtestem, aber nicht besten Kriegsroman, oder der literarischen Reportage von Ishimure Michiko zu der Umweltkatastrophe von Minamata mit ihren Quecksilbervergiftungen. Hiroshima und Nagasaki dürfen hier einmal vernachlässigt werden.

Diese Querschnitt-Essays sind nicht repräsentativ. Manchmal mutet ihre Zusammensetzung etwas willkürlich an. Sie dienen aber wie die Einführung, die gegen die Mär von einer japanischen "Nationalliteratur", den "Mythos von der Homogenität" Japans und der japanischen Kultur angeschrieben ist, einer Intention, die diesen Band insgesamt auszeichnet: Es kommt auf die Aufbrechung eines allzu uniformen Bildes japanischer Literatur, auf Verfremdung durch das Disparate, Unerwartete an. Vielleicht ist die Sammlung hier und da eher etwas für Fortgeschrittene als für Erstleser, aber immer mit beträchtlichem Erkenntnis- und gelegentlich auch humoristischem Lustgewinn: unter anderem dort, wo man erfährt, dass der Witz Abe Kobos den Namen des französischen Dichters Rimbaud auch als "Rambo" lesen kann. Im Schneeland der Literatur lauten manchmal offenbar alle Namen gleich.


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Irmela Hijiya-Kirschnereit: Ausgekochtes Wunderland. Japanische Literatur lesen.
edition text & kritik, München 2008.
214 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779423

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