Bojen der Erinnerung
Ulrike Kolbs Roman "Frühstück mit Max"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAusgerechnet in einem New Yorker Frühstückscafé treffen sich zwei Figuren wieder, deren Lebenslinien mehr als zwanzig Jahre zuvor in Berlin parallel verlaufen sind. Danach hat man sich aus den Augen verloren, "ohne sich jahrelang auch nur einmal über den Weg zu laufen." Es ist ein schöner Zufall, der die Mittfünfzigerin Nelly und den knapp 30-jährigen Max zusammen führt, denn daraus entsteht ein buntes Erinnerungsmosaik, das den Leser zurück versetzt ins Berlin der frühen 70-er Jahre - in eine Charlottenburger Wohngemeinschaft.
Wie "Bojen der Erinnerung" schaukelt die Zeit der großen Diskussionsrunden über antiautoritäre Erziehung, freie Liebe und Kinderläden wellenartig durch die Handlung. Die geistigen Ideale der Studentenbewegung nisten in den Köpfen der "fortschrittlichen" jungen Linken und warten darauf, dass eine Weltrevolution ausgebrütet wird.
Nelly, die bereits eine gescheiterte Ehe, eine von ihrem Ehemann initiierte Abtreibung und eine fehl geschlagene psychoanalytische Therapie hinter sich hat, lebt in einer solchen Wohngemeinschaft als lockere Partnerin von Max' alleinstehendem Vater. Nelly wird für den kleinen Max zu einer "Ersatzmutter", wechselt seine Windeln, spielt und lacht mit ihm und holt ihn ins Bett, wenn er nachts nicht schlafen kann. Ein völlig normales Verhalten nach dem Gusto der WG-Mitglieder, für die "Ehe" nichts weiter ist als "staatlich anerkannte Prostitution". Für eventuell auftretende zwischenmenschliche Gefühle gab es keinen Platz in den Marathon-Gesprächsrunden. Doch beim unerwarteten Wiedersehen in New York gesteht Nelly: "dass er, nachdem ich die Mommsenstraße verlassen hatte, bis nach der Geburt meiner eigenen Tochter auf seinem roten Ball durch meine Träume hüpfte."
Autorin Ulrike Kolb (Jahrgang 1942) lässt die beiden Protagonisten abwechselnd in die Vergangenheit schauen. Es entsteht kein verklärender Rückblick auf die "gute alte Zeit", sondern ein dichtes Stimmungsbild über eine zwischenmenschliche Beziehung und deren Scheitern. Die "Patchwork"-Familie als literarisches Thema wird hier mit all ihren Facetten durchleuchtet.
Während Max - inzwischen selbst Vater einer Tochter und in New York ansässig - die Beziehung eher nüchtern und sachlich, aber dennoch nicht ablehnend kommentiert, herrscht bei Nelly ein unentschiedenes konjunktivisches Denken vor. Zahllose Erinnerungsbruchstücke werden mit "hätte" eingeleitet und mit "wäre" fortgeführt. Augenscheinlich spielt Nelly in ihren Gedanken Möglichkeiten durch, wie beider Lebenswege hätten anders verlaufen können.
Zwar vermeidet Ulrike Kolb das sentimentale Pathos, doch irgendwie wirken beide Figuren wie Opfer ihres einstigen sozialen Umfeldes. Nelly scheint sich in der Rückschau um ihre "besten Jahre" betrogen zu fühlen, und Max' Übersiedlung nach New York lässt sich auch als Fluchtbewegung interpretieren. Er ist ausgerechnet Architekt geworden - ein Beruf also, in dem Ordnung statt Chaos herrscht, in dem (im Gegensatz zu seinen Kindertagen) nicht weg zu diskutierende Fakten dominieren.
Und über allem schwebt eine knisternde erotische Spannung - trotz oder gerade wegen der langen Trennung. "Ich hatte auch jahrelang die Vorstellung, wir hätten uns einmal geliebt", bekennt Nelly am offenen Ende des Romans. Mehr als nur schwärmerische Imagination einer alternden Frau? Diese Frage muss jeder Leser für sich selbst beantworten.
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