Die Vergangenheit ist nicht vergangen

Elif Shafaks "Der Bastard von Istanbul" ist ein grandioser Familienroman und ein Parforceritt durch hundert Jahre türkischer und osmanischer Geschichte

Von Hans Peter RoentgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Peter Roentgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Du sollst nicht verfluchen, was vom Himmel fällt. Dazu gehört auch der Regen. Egal was herabregnet, egal wie heftig der Wolkenbruch oder wie eisig der Schneeregen, du sollst niemals Flüche aussprechen gegen egal was der Himmel für uns bereit hält. Jeder weiß das. Auch Zeliha. Und dennoch ging sie an diesem ersten Freitag im Juli fluchend auf einem Bürgersteig, der eine hoffnungslos verstopfte Straße entlang führte."

Mit Regen und Flüchen beginnt dieser Roman über eine türkische Familie in Istanbul und eine armenische in den USA, die eigentlich nichts verbindet, zumindest nichts, das ihnen bewusst ist. Bis eines Tages die armenische Tochter einen Beschluss fasst: Armanoush ist neunzehn, ihr Vater ist Armenier, ihre Mutter waschechte Amerikanerin, die in zweiter Ehe mit dem Türken Mustafa verheiratet ist. Abwechselnd lebt sie bei dem Vater und seiner armenischen Großfamilie in San Francisco und der Mutter in Tucson, Arizona. So unterschiedlich beide sind, eines haben sie gemeinsam: Sie lassen ihre Kinder kaum aus den Augen und eines Tages beschließt Armanoush auszubrechen und die Familie ihres Stiefvaters in Istanbul zu besuchen. Der Mutter erzählt sie, sie sei bei Papa und seiner Großfamilie, denen wiederum erzählt sie, sie sei in Arizona bei ihrer Mutter.

Voller Sorge kommt sie in Istanbul an. Für sie ist es die Stadt, in der ihre Vorfahren ermordet worden sind, die Türken werden sicherlich feindselig reagieren, wenn sie erfahren, dass sie Armenierin ist? Doch die Familie empfängt sie herzlich und das ändert sich auch dann nicht, als Armanoush ihre Herkunft verrät. Stattdessen reagieren sie erstaunt. Von der Geschichte wissen sie so gut wie gar nichts. Armanoush trifft in Istanbul ein Haus voller Frauen an. Den Kazancis sind immer die Männer abhanden gekommen, entweder starben sie früh, oder sie flohen, wie Armanoushs Stiefvater, der zum Studieren in die USA flog und nie mehr zurückkam. So leben vier Generationen Frauen unter einem Dach. Urgroßmutter "Petit Ma", die einmal Rachmaninov spielen konnte und jetzt wegen Alzheimer nicht einmal mehr Kinderlieder klimpern kann. Großmutter Gülsüm, die in einem früheren Leben Iwan der Schreckliche war, hart und verbittert durch die Ehe mit einem prügelnden, lieblosen Mann. Die vier Schwestern Banu, Feride, Cevriye und Zeliha mit den kurzen Röcken und hohen Absätzen. Diese hat ein uneheliches Kind, Aysa, den Bastard von Istanbul. Ihre Schwester Banu kann in die Zukunft sehen und legt erfolgreich Karten. Dazu hat sie zwei Djinn, einen guten, Frau Süß und einen bösen, Herrn Bitter. Letzterer ist wichtiger, denn er kann ihr die Vergangenheit zeigen. Und weiß, wie schmerzlich Erinnerung sein kann. Das ist seine Rache an seiner Herrin: Er erzählt, was wirklich geschehen ist.

Immer tiefer dringt das Buch in die Geschichte der Personen ein, greift zurück in die osmanischen Zeiten, als Griechen, Armenier und Türken zwar nicht immer friedlich, aber immerhin zusammen lebten. Dann die Ereignisse von 1915, als der Urgroßvater von Armanoush mit einigen hundert armenischen Intellektuellen abgeholt und in ein Todeslager gebracht wird. Die Geschichte Shushans, der Großmutter Armanoushs. Und bald zeigt sich, wie die gleiche Vergangenheit beide Familien geprägt hat, wie zufällige Ereignisse und die große Geschichte die kleinen Lebensläufe prägt. Denn: "Familiengeschichten vermischen sich miteinander in einer Weise, dass etwas, was Generationen zuvor passiert ist, in scheinbar belanglosen Entwicklungen der Gegenwart wieder auftaucht. Die Vergangenheit ist alles andere als vergangen. [...] Das Leben besteht aus Zufällen, auch wenn manchmal ein djinni nötig ist, um das herauszufinden."

Shafak verwebt diese Lebensläufe, zeigt, wie die Geschichte ihre Fangarme in die heutige Zeit ausstreckt und wie die Personen wurden, was sie nun sind. Erstaunlich, mit welcher Kunstfertigkeit sie dabei alle Register des Erzählens zieht, Personen und Geschichte lebendig werden lässt, die Leser fesselt und gleichzeitig dafür sorgt, dass das Buch einen nicht mehr loslässt und immer aufs neue beschäftigt. Bruchstück um Bruchstück taucht die Vergangenheit auf, nie erzählt Shafak alles auf einmal und obwohl der Leser bald ahnt, wer der Vater des Bastards ist, gelingt es ihr doch noch, ihn am Schluss aufs neue zu überraschen. Nur wenige Familienromane erzählen so gekonnt, John Irvings "Gottes Werk und Teufels Beitrag" ist noch am ehesten vergleichbar.

Weil es um Armenier und Geschichte ging, wurde das Buch von Nationalisten in der Türkei vor Gericht gezerrt. Allerdings weigerte sich das erste Gericht, die Klage überhaupt zu verhandeln, das zweite sprach die Autorin frei. Das Buch wurde in der Türkei ein Bestseller, offensichtlich können Militär und Nationalisten das Thema nicht mehr länger unter den Teppich kehren. So hat Shafak nicht nur einen spannenden Roman geschrieben, sondern auch gezeigt, dass Bücher eine Bedeutung darüber hinaus haben, dass sie den Leser für einige Stunden fesseln können. "Shafak ist die beste Autorin, die die Türkei im letzten Jahrzehnt hervorgebracht hat." behauptet der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Vermutlich ist das eine Untertreibung.


Titelbild

Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
330 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783821857992

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