Reliqiuenkult im Dichterpalast
In der Ausstellung „Autopsie Schiller“ wird der deutsche Klassiker in besonderer Form bedacht
Von Ulrich Rüdenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Elvis Presley starb, war dem Fan nichts und alles heilig: Wer einen von Elvis berührten Gegenstand ergattern konnte, auf den kam auch ein bisschen etwas von der Aura des Auserwählten. Man war so Gott, der sich in säkularen Zeiten immer wieder neue Stellvertreter suchen muss, einen Millimeter näher. Sogar das Schild mit der Hausnummer des Bad Nauheimer Hauses in der Goethestraße, in dem Elvis während seiner Militärzeit in Deutschland wohnte, wurde von einer jungen Frau in einer Nacht- und Nebelaktion entwendet. Das Schild wird von ihr bis heute in einem kleinen Schrein gehütet. Man muss entweder ein notorischer Fan oder katholisch sein, um diese Form des Reliquienkults zu verstehen.
Wer glaubt, dass erst die Popkultur die Verehrung von Künstlern in zeremonielle Anbetung verwandelt hat, sollte sich folgendes vor Augen führen: Ein Bewunderer Friedrich Schillers zieht nach dessen Tod im Jahr 1805 einen Faden aus einem Stuhl, auf dem der Dichter angeblich einmal gesessen haben soll; er bewahrt den Faden auf wie einen Schatz. Ein anderer Anhänger des „deutschen Shakespeare“ schneidet 1886 ein Stückchen Holz aus dem Türrahmen von Schillers Geburtshaus; auch dieser Splitter steht für das Ganze und zeigt, aus welchem Holz der wahre Fan geschnitzt ist. Münzen, die Schillers Hände einmal umschlossen haben, kehren nicht zurück in den Geldverkehr, sondern werden gleichfalls aufbewahrt und mit Samthandschuhen angefasst. Diese Berührungsreliquien können nur noch durch Reliquien erster Klasse, also Teilen des Körpers selbst, überboten werden: Die Unzahl von Schillers sprießenden Locken, mal blond, mal braun, die auf dem literarischen Gedenkmarkt des 19. Jahrhunderts von kaum schätzbarem Wert gewesen sein müssen, zeugen von wahrer religiöser Inbrunst: Der Schopf auf des Dichters Haupt ist unmittelbar mit dem Genius verbunden – jedes Haar eine Antenne zu den himmlischen Göttern, die den Geist mit Schöpferkraft speisen. Die Frage nach der Authentizität der Locke löst sich auf in der unschuldigen Hingabe ans anbetungswürdige Objekt.
Nun gibt es einen Ort, an dem die Schillerverehrung sich so markant wie sonst nur noch in Weimar manifestiert hat: In Marbach am Neckar steht nicht allein das gerade neu gestaltete und wiedereröffnete Geburtshaus des vor 250 Jahren geborenen Klassikers – auf der Schillerhöhe empfängt den Besucher zudem ein überdimensionales Schiller-Denkmal sowie ein vor 106 Jahren zu seinen Ehren erbauter Pantheon. Das Schiller-Nationalmuseum wird momentan saniert, und bevor darin ab dem 10. November der größte Sohn der Stadt und die gesamte schwäbische Dichterschule wieder mit einer Dauerausstellung geehrt werden, läutet man das ereignisreiche Jubiläumsjahr im Literaturmuseum der Moderne mit einer großen Ausstellung rund um den Nachlass Schillers ein.
Da seit 1903 des Autors gedacht wird, ein einflussreicher Schillerverein über das Tun und Wirken der Kuratoren wacht, vor vier Jahren zum 200. Todestag erst die letzte große Schau stattfand, das Archiv etwa 700 Briefe, 150 Manuskripte, 2000 Bilder besitzt und auch alles beargwöhnt wird, was als Veränderung des teuren Schillerbildes verstanden werden könnte – weil es also nicht nur den Dichterpalast, sondern auch sehr viel Erinnerungsbalast gibt, haben die Ausstellungsmacher es nicht eben leicht. Schiller ist ein undankbares Thema, wenn man das neben dem Nationalmuseum errichtete Literaturmuseum der Moderne bespielen will. Wie souverän Heike Gfrereis, die Leiterin des Museums, diesen Parcours aus Traditionspflege, Misstrauensvorschuss und moderner Ausstellungsgestaltung gemeistert hat, davor kann man nur den Hut ziehen.
Mit eben einem solchen Hut, der zum Ziehen einlädt, setzt der Rundgang durch die Ausstellung ein. Schiller hat das leicht zerknautschte, lederne Accessoire bereits als Karlsschüler getragen, und es hängt, aufbewahrt in einer zylindrigen Vitrine, von der Decke herab und schwebt über einem großen, kreisförmigen Vitrinentisch: Rundgang ist also genau der richtige Begriff. Man umkreist Schiller an neun solcher Tische, immer ausgehend von einem emphatisch aufgeladenen Erinnerungsstück, das mit Schillers Körper in Berührung gekommen ist: „Autopsie Schiller“ nennt die Direktorin ihre topografische Erkundung des menschlichen Körpers. „Haupt und Himmel“ heißt die erste Sektion, die von besagtem Hut ihren Ausgang nimmt: unter der Hutkrempe der Kopf, darüber der Himmel. Dieser Kosmos wird assoziativ ausgemessen, und wie auf einer Sternenkarte fügt man sich die einzeln herumschwirrenden Archivalien-Gestirne zu schillernden Bildern zusammen. „Von den Dingen der Sammlung zu den Worten seines Werks“ soll es gehen, und an kleinen Details soll sich die poetische Auferweckung entzünden. Den Hut finden wir – ganz offensichtlich – wieder im „Wilhelm Tell“, und wenn der Ruhm nur groß genug ist wird die Kopfbedeckung ersetzt vom Lorbeerkranz. Zwei Lorbeerblätter, eins von Johann Wolfgang Goethes und eins von Schillers Sarg, hat ein Weimarpilger aus der Gruft geborgen und aufgehoben. Goethes Blatt ist größer.
Da das assoziative Spielfeld ein weites ist, geht es in dieser Abteilung auch zwangsläufig übers Irdische hinaus: Versammelt sind Manuskripte und Briefe, in denen Schiller den Himmel anruft – um die Familie und die Frauen zu überhöhen oder Höhergestellte wohlgesonnen zu stimmen.
„Stirn und Haar“, die nächste Station, bildet die ganzen Posen und Gesten ab, mit der man Dichter zu Ikonen formen konnte: Wenn der Kopf schmerzt, ist die Melancholie nicht weit. In der typischen Haltung, das Haupt sinnierend auf die Hand gestützt, wird Schiller des öfteren dargestellt – was nicht nur Bildformel ist, sondern auch den damals neuesten Erkenntnissen der Akkupressur entgegenkam. Der sanfte Druck der Finger versprach Linderung. Das Stirnband, mit dem wir uns Schiller auch vorstellen dürfen, war ein medizinisches Hilfsmittel gegen Schädelbrummen, gehörte aber überdies zum antiken Zeichenrepertoire: Herrscher und Götter wurden damit dargestellt, aber auch Dichter wie Sophokles und Homer. Die verschiedenen Elemente der Heldenikonografie werden zuweilen gar miteinander verschmolzen: Wir sehen Schiller im berühmten Tischbein-Porträt mit Germanenschopf und roter Toga zum deutschen Imperator geadelt.
So geht es sprunghaft und zugleich sehr anschaulich weiter: Beispielsweise versenkte Schiller seinen Blick gerne in Prismen, und es finden sich auch viele Spiegelbilder in seinem Werk. Seine imposante Nase – angeblich, so der Dichter, durch andauerndes Dranziehen zu voller Pracht gereift – wird zum biblischen Seelenorgan des Menschen. Die Schnupftabakdose hatte Schiller immer zur Hand, und sie findet sich in der Ausstellung unter Glas wieder: Im assoziativen Spiel der Kuratorin wird sie zur „Büchse der Pandora: In ihr schlummern alle Sinnesreize, Leiden und Naturgewalten, Schönheit und Grausamkeit, Leben und Tod.“
„Autopsie Schiller“ ist eine Ausstellung, die tatsächlich eine Brücke schlägt vom Sinnlichen zur Sinnlichkeit der Texte, und das mit schönem Gespür für kleine Bruchstellen, verschwiegene Verbindungen, auratische Archivalien, erhellende Textfunde, symptomatische Autografen. Am eindrücklichsten sind vielleicht jene ausgestellten Bücher und Manuskripte, in denen Schiller mit Furor seine Notizen und Streichungen eingefügt hat. Aber auch die mutmaßlich von Schiller stammenden Gegenstände werden beredt: Sein Löffel und seine Schuhschnalle werden durch die Hinführung aufs Werk zu materiellen Trägern immaterieller Ideen. So ist „Autopsie Schiller“ mindestens ebenso sehr eine kritische Auseinandersetzung mit den Mythen, die sich seit dem 19. Jahrhundert um einen solchen Künstler ranken, wie auch eine Werkgeschichte. Der Devotionalienkult wird hier einsichtig gemacht als Religionsersatz: Die Reliquie als Datenträger von etwas Höherem, das aus der Dichtung spricht, das man aber gerne auch der Person des Dichters andichten möchte.
In seinem dem Katalog angehängten Essay „Flüchtige Tote“ schreibt Wilhelm Genazino: „Schweigende Dokumente stauen die Vergangenheit in eine stumme Zukunft, die dann von einem zufälligen Betrachter wieder entstaut wird.“ Wir könnten diese zufälligen Betrachter sein; die Ausstellung ermutigt uns dazu.
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