Vergangenheitsbewältigung

Melitta Brezniks Roman "Nordlicht" verknüpft zwei Frauenschicksale

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna ist Mitte 40, lebt mit ihrem Mann, einem selbständigen Unternehmer, in Zürich und arbeitet als Psychiaterin. In ihrem Leben läuft schon lange nichts mehr so, wie sie es sich erträumt hatte. Ihr Mann befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten und steht kurz vor der Firmenauflösung, weigert sich aber, Hilfe von seiner Frau anzunehmen. Diese wiederum ist in ihrem Job völlig überlastet und bewegt sich direkt auf ein Burn-Out zu. Auch in ihrer Ehe kriselt es, denn die beiden Eheleute finden aufgrund ihrer individuellen Probleme kaum mehr Zeit füreinander oder eine geeignete Gesprächsbasis. Während ihr Mann offenkundig unzufrieden und zornig auf die Welt ist, frisst Anna zunehmend alles in sich hinein. Als sie von Schlafmangel und Halluzinationen geplagt wird und Stimmen zu hören beginnt, erscheint ihr eine vorübergehende Trennung von ihrem Mann als geeignetes Mittel, um wieder zu sich selbst und eventuell sogar zu ihm zu finden. Nachdem dieser aber bereits vor Ablauf der abgesprochenen Auszeit eine neue Frau an seiner Seite präsentiert, fasst Anna einen folgenschweren Entschluss: sie lässt sich scheiden und macht sich auf zu den Lofoten. Hier möchte sie auf Basis der Tagebücher ihres Vaters, der während des Zweiten Weltkrieges in Nordnorwegen stationiert war und den sie kaum kannte, ein Stück ihrer Vergangenheit aufdecken.

Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase in dem kargen, kalten und einsamen Gebiet macht Anna recht bald Bekanntschaft mit der um einige Jahre älteren Norwegerin Giske Norman. Die beiden Frauen fassen schnell Vertrauen zueinander, und Giske offenbart Anna ihre verdrängte Vergangenheit. Als uneheliche Tochter einer Norwegerin und eines deutschen Besatzungssoldaten als "Deutschenbalg" beschimpft und als minderwertig betrachtet, wurde sie in einer Pflegefamilie, dann in einem Heim für schwer erziehbare Kinder und schließlich in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Ihre Kindheit war geprägt von Demütigung, Missachtung, Gewalt und Grausamkeit. Ihre leiblichen Eltern kannte Giske nie, jedoch wird sie durch Annas Neugier rund um ihre eigene Vergangenheit angespornt auch Nachforschungen anzustellen. Das Ergebnis dieser Reise in die Vergangenheit soll für beide Frauen ein überraschendes, wenn auch erfreuliches sein.

Breznik verknüpft in "Nordlicht" die Lebensgeschichten und Schicksale zweier Frauen, die genauso unterschiedlich wie ähnlich sind. Beiden ist der Vater mehr oder weniger fremd, beide haben sich entschlossen, nach der Scheidung ein gänzlich neues Leben anzufangen und beide kämpfen mit von ihrer Vergangenheit herrührenden psychischen Schwierigkeiten. Mit viel psychologischer Tiefe führt Breznik ihre Leser und Leserinnen mitten in die Leben von Anna und Giske, die die einzelnen Bausteine ihrer Vergangenheit entdecken und in Folge enthüllen. Die Autorin, eine aus der Steiermark stammende und seit Jahren in der Schweiz lebende und arbeitende Psychiaterin und Psychotherapeutin, kann sich hier ihre Berufserfahrung zu Nutze machen. Dabei erzählt sie keine lineare Geschichte, sondern setzt diese aus einem Mosaik an gegenwärtigen Schilderungen und Rückblendungen zusammen.

Der Roman beginnt im Jahre 2003 in Zürich, greift plötzlich aber auf Annas Aufenthalt auf den Lofoten vor, um danach noch weiter in die Vergangenheit einzutauchen und die Zeit Annas in ihrer Heimatstadt Graz abzubilden. Die Erzählungen aus der Vergangenheit (Zürich, Graz) sind im Präteritum und Perfekt gehalten und werden von einem allwissenden Erzähler wiedergegeben, während Annas gegenwärtige Situation auf den Lofoten im Präsens von ihr selbst erzählt wird. Dadurch bekommen diese Abschnitte einen sehr persönlichen Ton und geben einen genauen Einblick in die Gedanken und Gefühle der Protagonistin. Der Aufenthalt in Norwegen führt zu einer Rückbesinnung auf sich selbst, und ab nun will sie sich nicht mehr von außen bestimmen lassen. Diese nordnorwegischen Episoden werden erst durch die Rückblenden nach Zürich gänzlich begreiflich.

Aber nicht nur Anna, sondern auch Giske kommt in diesem Roman zu Wort. Sie schildert sowohl ihre gegenwärtige Situation als auch ihre Vergangenheit als junges Mädchen im Ostnorwegen der 1950er-Jahre. Diese wird im Präsens beschrieben, wohl um den Prozess zu verdeutlichen, in Folge dessen diese verdrängten Bilder und Erinnerungen an die Oberfläche gebracht werden. Die Geschichten Annas und Giskes sind dabei nicht strikt voneinander getrennt, sondern gehen ineinander über. Breznik gibt auch nur kleine Anhaltspunkte dafür, wer gerade am Wort ist. Durch die Aufdeckung dieser teilweise unbekannten, teilweise verdrängten Vergangenheit finden Anna und Giske Heilung in der Gegenwart. Die Geschichte beider Frauen beschäftigt sich mit demselben Thema, beleuchtet dieses aber aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die Autorin schafft vor dem Panorama der nordnorwegischen Landschaft, die sie ebenso liebevoll und ausführlich beschreibt wie die Bewohner und Bewohnerinnen dieses Landstriches, eine spannende Atmosphäre. Die Natur kann dabei stellvertretend für das Seelenleben der beiden Frauen aufgefasst werden: das Klima ist düster und kalt und die Landschaft karg und einsam, ebenso wie das Innerste von Anna und Giske. Breznik bedient sich einer sehr einfachen und geradlinigen Sprache, schafft es aber dennoch menschliche Emotionen eindrucksvoll abzubilden. Behutsam geht sie mit Themen wie der staatlich geplanten Deportierung von sogenannten "Deutschenkindern" und psychischen Erkrankungen um, ohne dabei in die Rührseligkeit abzugleiten. Das große Geheimnis dieses Romans ist zwar schon nach der Lektüre des Klappentextes recht schnell entlarvt, jedoch tut dies der Spannung und dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Im Gegenteil: die Art und Weise, wie Breznik ihre Leser und Leserinnen an die Aufdeckung des Geheimnisses heranführt, ist bemerkenswert.


Titelbild

Melitta Breznik: Nordlicht. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
251 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872872

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