Terra incognita

Thomas Koebner und Irmbert Schenk haben einen Band über "Das goldene Zeitalter des italienischen Films" herausgegeben

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das schwarz-weiße Foto von Anita Ekberg, die im weißen Kleid in der Fontana di Trevi badet, ist auch heute noch weithin bekannt, nicht nur unter deutschen Rom-Touristen. Federico Fellinis "Dolce Vita" von 1960, dem das Bild entstammt, ist hingegen auch regelmäßigen Kinogängern in Deutschland aus eigener Anschauung kaum noch gegenwärtig. Das gilt um so mehr für die italienische Filmgeschichte der 1960er-Jahre insgesamt, die in Deutschland, wie die Herausgeber Thomas Koebner und Irmbert Schenk in ihrer Einleitung zu "Das goldene Zeitalter des italienischen Films" zutreffend feststellen, "weitgehend terra incognita" ist.

Der vorliegende Band, der aus einer international besetzten Tagung an der Universität Mainz von 2006 hervorgegangen ist, schließt mit seinen insgesamt 31 Beiträgen deshalb eine ganze Reihe von Lücken und bietet für viele der behandelten Themen zum ersten Mal eine Darstellung für ein filminteressiertes deutschsprachiges Publikum, dem die italienische Fachliteratur nicht zugänglich ist. Neben der sprachlichen Hürde kommt bei Literatur zur italienischen Filmgeschichte ohnehin noch als Schwierigkeit hinzu, dass diese in Deutschland selbst in gut ausgestatteten Universitätsbibliotheken nur eher zufällig vertreten ist. Allein aus diesen Gründen ist vorauszusehen, dass "Das goldene Zeitalter des italienischen Films" zu einem Referenzwerk werden wird.

Der Band gliedert sich in neun Abschnitte, von denen der erste über "Italien und das italienische Kino in den 1960er Jahren" drei profunde Überblicksartikel eines britischen und zweier italienischen Spezialisten umfasst (David Forgacs, Giorgio De Vincenti, Mariagrazia Fanchi), in denen die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung des italienischen Kinos des untersuchten Zeitraums prägnant skizziert werden. Es folgen vier Beiträge über Michelangelo Antonioni (von Irmbert Schenk, Ute Felten, Matthias Bauer und Karl Prümm), zwei über Fellini (von Thomas Koebner und Peter Bondanella), drei über Luchino Visconti (Hermann Kappelhoff, Veronica Pravadelli, Norbert Grob) und gleich fünf über Pier Paolo Pasolini (Bernhard Groß, Josef Rauscher, Martin Zenck, Elisabeth Oy-Marra, Anita Trivelli). Den sechsten Abschnitt bildet ein einziger Beitrag über Rosselini als Fernsehregisseur (von Ulrich Döge), den siebten bilden vier Beiträge zu Francesco Rosi, Damiano Damiani, Pietro Germi und Dino Risi (von Heinz-B. Heller, Hans Richard Brittnacher, Rada Bieberstein und Mariapia Comand).

Ein achter Abschnitt versammelt unter dem Titel "Der Genrefilm" Artikel zum Italo-Western, zum Kolossalfilm und zur italienischen Spielart des Horrorfilms und des Thrillers (Pierre Sorlin, Roy Menarini, Francesco Pitassio, Marcus Stiglegger, Giacomo Manzoli), ein "Aspekte" überschriebener, neunter Abschnitt informiert über Filmmusik, Mode und Weiblichkeitsentwürfe, die Ästhetik des Surrealen und das italienische Kino um 1968 (Peter Moormann, Marisa Buovolo, Volker Roloff, Giovanni Spagnoletti).

Eine von Irmbert Schenk erstellte "Kleine Chronik des italienischen Films in den 1960er Jahren" beschließt den Band und führt für die Jahre 1960 bis 1970 mehr als 150 Filmtitel an, zu denen für die Jahre 1960, 1964 und 1968 teilweise auch noch die Kasseneinnahmen, sowie für das jeweils ganze Jahr die Zahl der Kinosäle in Italien, die Zahl der verkauften Karten und die Anteile von in- und ausländischen Produktionen am Jahresprogramm genannt werden. Statistische Angaben und Zahlen sind insgesamt ein Vorzug des Bands, der in mehreren Beiträgen italienische und internationale Vergleichsgrößen zur Entwicklung des Kinokartenverkaufs, zur Zusammensetzung des Publikums oder zur Produktion bestimmter Genres im europäischen Vergleich bietet.

Der Überblick über die neun Abschnitte lässt aber auch bereits die einzige nennenswerte Schwäche in der Zusammenstellung der Beiträge erkennen, nämlich deren erhebliches Ungleichgewicht. Zwar ist auch so immer noch eine erfreulich große thematische Bandbreite abgedeckt, aber es scheint mir, bei aller Bedeutung, die den großen Namen Antonioni, Visconti und Pasolini gewiss zukommt, doch fraglich, ob es unumgänglich war, allein zwölf der 31 Beiträge auf die teilweise mikroskopische Analyse von deren Werken zu verwenden, zumal es sich dabei um die Regisseure handelt, für die sich noch am ehesten Forschungsliteratur in anderen Sprachen als Italienisch findet. Wenn man sich hier etwas beschränkt und vielleicht jeden der "großen" Autoren mit nur ein oder zwei längeren, synthetischen Beiträgen bedacht hätte, wäre mehr Platz für weitere, eher monografische Artikel nach dem Muster der sehr gelungenen Texte von Mariapia Comand über Dino Risi oder von Marcus Stiglegger über den Horrorfilmer Mario Bava geblieben. Themen wie der Commedia all'italiana, die zwar in mehreren Beiträgen am Rande auftaucht, aber nicht zusammenhängend dargestellt wird, populären Erfolgsregisseuren wie Mario Monicelli und Antonio Pietrangeli oder stilprägenden Fließbanddrehbuchautoren wie Age (Agenore Incrocci), Furio Scarpelli oder Ennio Flaiano, die sowohl für die "großen" Regisseure als auch für die Commedia all'italiana oder den Italo-Western arbeiteten, hätte so noch etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden können.

Aber mit dem, was das Buch in der vorliegenden Form bietet, kann man sich über die wichtigsten Strömungen und ihre Vertreter bereits sehr umfassend informieren. Ich werde im Folgenden nicht alle 31 Aufsätze referieren, sondern einige Hauptlinien des Buchs hervorheben. Ein wenig versteckt, nämlich erst in Pierre Sorlins ausgezeichnetem Beitrag zum europäischen Zusammenhang der Kolossalfilm- und Westernproduktion, der auf S. 371 beginnt, finden sich grundlegende Informationen zu den politischen und ökonomischen Voraussetzungen, die den italienischen Kinoboom der späten 1950er- und der 1960er-Jahre überhaupt erst ermöglicht haben. Eine Reihe von Notmaßnahmen der italienischen Regierung, die ausländische Produktionsfirmen verpflichteten, einen Teil ihrer in Italien erzielten Gewinne im Land zu investieren, den italienischen Kinos eine Mindestquote für die Vorführung nationaler Produktionen auferlegten und die italienische Produktion mit Steuergeldern subventionierten, erzeugten, in Verbindung mit einem europäischen Koproduktionssystem, mit der in Form von Cinecittà bereits vorhandenen Infrastruktur und der Anwesenheit von Dependancen der großen Hollywood-Studios eine Dynamik, die zu dem allein quantitativ enormen Ausstoß an Filmen führte.

Sorlin und Giacomo Manzoli zeichnen in einem weiteren Beitrag zum "Western all'Italiana" jeweils in großer Klarheit und unter Verwendung einer beeindruckenden Datenmenge die Entwicklung dieses vermutlich einflussreichsten Genres der italienischen 1960er-Jahre von den Anfängen mit Sergio Leone bis zu den slapstickhaltigen Spätausläufern mit Bud Spencer und Terence Hill nach. Bei Sorlin erfährt man dazu noch etwas über die anfangs parallele Entwicklung des Kolossalfilmgenres, in dem auch Leone seine erste Regiearbeit vorgelegt hatte.

Die erstaunliche Vielfalt der italienischen Kinoproduktion der 1960er-Jahre ist aber auch, wie mehrere Beiträge des Bands betonen und mit Zahlen belegen, als eine letzte Blüte vor der flächendeckenden Durchsetzung des Fernsehens zu betrachten: Zwischen 1960 und 1970 nahm der private Besitz an Fernsehgeräten in Italien um 500 Prozent zu. Wurden in Italien 1954 noch mehr als 800 Millionen Kinokarten verkauft, waren es 1974 nur noch 544 Millionen, wie David Forgacs eingangs darstellt. Dass es sich aber nicht um ein reines Konkurrenzverhältnis handelt, erläutert Pierre Sorlin, der zeigt, dass viele italienische Billigproduktionen im antiken Kolossalgenre von Anfang an für den amerikanischen Fernsehmarkt berechnet waren. Da die Produktion in Italien zudem subventioniert wurde, konnte man die massenweisen Flops an den italienischen Kinokassen - Sorlin schreibt, dass von insgesamt 130 dieser sogenannten "Peplumfilme" 94 völlig durchfielen - ohne großes Risiko in Kauf nehmen. Es wäre zwar verlockend, Roberto Rossellinis Wechsel vom Kino zum Fernsehen, dem Ulrich Döge einen erhellenden Aufsatz widmet, als ein Symbol für die gesamte Entwicklung zu nehmen, aber Rossellinis Weg zum Fernsehen sei, nüchtern betrachtet, vermutlich auch eine Reaktion auf die zunehmende Erfolglosigkeit seiner Filmproduktion gewesen, wie Döge nahelegt.

Mit der Verbreitung des Fernsehens ging in den 1960er-Jahren, wie Mariagrazia Fanchi zeigt, auch eine soziologische und geschlechtsspezifische Wandlung des Kinopublikums einher. Während in den 1950er-Jahren das Kino, zugespitzt formuliert, noch Unterhaltung für die ganze Unterschichtfamilie bot, wurde der Kinobesuch in den 1960er-Jahren zu einem männlich dominierten Mittelschichtvergnügen: 1965 waren nur noch 22 Prozent der regelmäßigen Kinogänger Frauen, während sich der kontrolliertere, heimische Fernseh- und Radiokonsum, gerade auch in den Augen der immer noch einflussreichen katholischen Kirche, als die moralisch weniger bedenkliche und deshalb dem weiblichen Publikum gemäßere Form des Medienkonsums etablierte.

In den Beiträgen zu Antonionis filmischer Entwicklung von den Anfängen im Neorealismus hin zu den experimentelleren Formen der 1960er-Jahre und dem, was Antonioni selbst als "Gewaltangriff auf die Realität" bezeichnet hat, wird ersichtlich, wie eine anfangs verstörende Erzählweise die Rezeptionshaltung des Publikums weiterentwickelt, so dass diese Erzählweise bereits nach wenigen Jahren als eine Art Markenzeichen integriert werden kann.

Bauer weist darauf hin, dass das unmotivierte und im Film nicht weiter thematisierte Verschwinden einer weiblichen Hauptfigur bei den ersten Aufführungen von "L'Avventura" (1960) zu Unmutsäußerungen des Publikums und der Kritik geführt habe, während das gleiche Phänomen in "Blow up" (1966) kaum noch jemandem aufgefallen zu sein scheint. Bauer sieht darin ein Indiz dafür, dass das Publikum mittlerweile verstanden hatte, dass an Antonionis Filme andere Fragen zu stellen waren, und dass sie im Blick auf die Folgerichtigkeit und einige weitere Grunderwartungen einer Erzählung gegenüber bewusst "antiaristotelisch" gebaut seien. Veronica Pravadelli unterstreicht diese Beobachtung in ihrem Beitrag über "Viscontis Stilwandel von ,Rocco e i suoi fratelli' zu ,Vaghe stelle dell'Orsa'", indem sie zeigt, dass Visconti schon 1965 in "Vaghe stelle" typische Versatzstücke von Antonionis Bildsprache als eine mögliche Erzählweise modernen Kinos zitiert, um dann die Traditionsverbundenheit seiner Hauptpersonen durch ein seinerseits traditionelleres Erzählen hervorzuheben. Die Aufwertung von scheinbar Nebensächlichem, die bei Antonioni auch die Bildkadrierung beeinflusst, übernimmt Visconti zwar nicht auf der Ebene der Bildsprache, dafür führe bei ihm, wie Norbert Grob anhand des "Gattopardo" erläutert, die Dingwelt zusehends ein Eigenleben, die Filme zeigten "Menschen inmitten von Dingen, die dem Drama eine deutlichere Kontur geben".

Die "figurative Erleuchtung", die Pasolini eigenen Aussagen zufolge während seines Studiums der Kunstgeschichte bei Roberto Longhi in Bologna erlebt hatte, hat ihre Spuren in allen seinen Filmen hinterlassen. Bernhard Groß analysiert deren eigenwillige Bildräume, Josef Rauscher untersucht darin die "Re-Sakralisierung der Dinge im Bild" und Martin Zenck die Anteile von Sakralem und Gewalt in Eros und Musik, besonders am Beispiel von "Teorema" und "Medea". Die Kunsthistorikerin Elisabeth Oy-Marra widmet den tableaux vivants (Rosso Fiorentinos "Kreuzabnahme" und Pontormos "Grablegung") in "La Ricotta" eine eingehende Deutung und sieht die Intermedialität als Pasolinis Form der Auseinandersetzung mit der Bildtradition. Anita Trivelli verfolgt abschließend die Spuren der "figurativen Erleuchtung" in Pasolinis Dokumentarfilmen und möchte die "Appunti per un film sull'India" auch als "Botschaft für die derzeitige Ära der Globalisierung" lesen.

Nach diesen fünf Beiträgen über einen Autor folgen im Abschnitt "Über weitere Regisseure" vier Beiträge über fünf verschiedene Regisseure. Die präzisen Überblicksskizzen, mit denen hier Francesco Rosis Anfänge im Neorealismus, der italienische Politthriller ebenfalls bei Rosi ("Salvatore Giuliano" und "Le mani sulla città"), bei Damiano Damiani und bei Pasquale Squitieri, Pietro Germis sizilianische Gesellschaftskomödien und Dino Risis Werk der 1960er, besonders "Il sorpasso" (1962), kritisch gewürdigt werden, zeigen, ebenso wie die Beiträge der letzten beiden Abschnitte, eine Stärke des Bandes gerade in der konzisen interpretatorischen Aufbereitung größerer Datenmengen. Besonders hervorgehoben seien aus diesem Teil Moormanns Analyse der Filmmusiken von Nino Rota und Ennio Morricone, Buovolos Deutung der Frauenmode im Film und Spagnolettis kenntnisreicher und bis in entlegene Kleinstproduktionen führender Durchgang durch den politischen Film um 1968. Als Fazit kann man die Herausgeber zur gelungenen Auswahl der Themen und Beiträger zu diesem Band, der in der Summe durchaus die Funktion eines Handbuchs zu erfüllen vermag, nur beglückwünschen.


Titelbild

Thomas Koebner / Irmbert Schenk (Hg.): Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre.
edition text & kritik, München 2008.
535 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779232

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