Eine Stimme aus dem Gestern

Jochen Kelters Kurzprosa-Band "Ein Ort unterm Himmel"

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenige Monate nach "Ein Vorort zur Welt" legt der mittlerweile 62-jährige Jochen Kelter eine weitere Sammlung seiner Essays und Texte vor. Diesmal sind es 14 Arbeiten, die meisten davon zuerst in den Jahren 1982 bis 1989 publiziert, dazu drei Zeitungsartikel neueren Datums sowie eine einzige Erstveröffentlichung. Sie nehmen sich bedeutend aus, noch dazu in diesem außergewöhnlich schön aufgemachten Buch. Und so nimmt man es gerne zur Hand, gespannt auf weithin unbekannte Texte aus der Feder eines oft unterschätzten Lyrikers und Prosaschriftstellers, der gebürtiger Kölner ist und im Lauf der Jahrzehnte zu einem waschechten Alemannen wurde. Die anfängliche Spannung indes lässt rasch nach und macht einem anderen Zustand Platz: einer sich von Seite zu Seite steigernden Enttäuschung. Und da die Literaturkritik, wenn sie denn eine ist, auch mit entschiedenen Urteilen nicht hinterm Berg halten sollte, sei hier gleich ganz deutlich gesagt: Dieses Buch muss man nicht lesen.

Ein hartes Urteil. Zu hart? Vielleicht. Denn dass Jochen Kelter geschliffen zu formulieren versteht, dass er, darüber hinaus, auch in seinen Essays und Reflexionen durchaus poetisch werden und zu einer Sprache finden kann, die über den Anlass des jeweiligen Textes und über den Tag hinaus trägt und gültig bleibt, das spürt man gelegentlich auch im neuen Band. Sehr gelegentlich allerdings - denn es wird überlagert von einem oft nur noch larmoyanten Lamentieren über das eigene Schicksal und über die politischen Zeitläufte. Kelter verliert sich in Details seiner stets politisch-symbolisch überhöhten und oft doch nur höchstpersönlichen Lebensgeschichte. Trotz aller ein wenig zu oft behaupteten Weltläufigkeit spricht hier über weite Strecken ein im schlechtesten Sinne provinzielles Ich, das mit tief empfundenen Kränkungen aus der Studentenzeit und misslichen lokalen Gegebenheiten aus den 1970er-Jahren offenbar bis heute nicht fertig geworden ist.

Wen interessieren Interna aus dem Konstanzer Sozialistischen Deutschen Studentenbund der Jahre nach 1968? Vielleicht ein paar Alt-68er, die dann auch mit Geständnissen à la "Selten habe ich mich an einer falscheren Sache als der These vom Tod der Literatur beteiligt" irgendetwas anzufangen wissen? Wer will darüber lesen, wie die Reste der Studentenbewegung am Bodensee "versandeten und verschlidderten"? Über die damaligen Zweifel der deutschen Behörden an der Verfassungstreue des Bürgers K.? Das alles ist lange her, und was ist seither passiert? "Ich bin dageblieben. Man wird sogar grau. Und auch sonst".

All das liest man im Eröffnungsessay "Fremde am See". Dass es in der berühmt-berüchtigten "BRD" vor 35 Jahren einmal "Berufsverbote" gab, weiß man, ohne dass es, im zweiten Beitrag zu diesem Buch, der mühsamen Lektüre langweiliger Passagen aus der Akte K. bedürfte. Und selbst wenn das seine Berechtigung hätte (hat es aber nicht): Die den entsprechenden Text abschließende Selbststilisierung - der arme K. ist inzwischen aus Deutschland in die Schweiz gezogen - grenzt an eine Beleidigung aller Opfer von Verfolgung und staatlicher Gewalt: "Ich wohne diesseits der Grenze, ich wohne jenseits der Grenze. Ich wohne mit dem Kopf drüben und mit dem Herz herüben. Ich gehe hinüber über die Grenze ins Exil. Ich kehre heim über die Grenze ins Exil. Hier bin ich zu Hause". Hat auch schon mal bessere Zeiten erlebt, das Exil. Man kann Begriffe auch bis zur Unerträglichkeit verwässern.

Politische Entrüstungs-Aufsätze wie "Die Kunst der Leiners. Chronik einer bürgerlichen Familie aus der Provinz" oder "Vom Redaktionspult ins akademische Mischkreuz" dürften höchstens ein paar Leser in und um Konstanz interessieren, und abseitige Leitartikel wie "Kurze Einladung zum Verlassen der Heimat" nicht einmal diese. Sogar die unerhörte Tatsache, dass man ihn in der deutschen Botschaft in Bern einmal einfach warten ließ, ist Kelter drei Buchseiten wert. Und am Schluss des Bandes stehen "Ein paar Einwürfe zur Geschichte der BRD von den Siebzigerjahren zur Gegenwart", die seine Abscheu vor Deutschland, seinen Antiamerikanismus und seinen grundsätzlichen Kulturpessimismus auf den neuesten Stand bringen: "Und dem Leser, der einwendet, es handle sich da nicht um ein regionales oder nationales, sondern europäisches Phänomen, erwidere ich, es ist mir kein Trost, dass die Pauperisierung, Banalisierung und Gettoisierung des Alltags allerorts zunimmt". Der Gerechtigkeit halber sei es betont: Dazwischen gibt es die oben erwähnten lesenswerten Seiten, auf denen es in vielfacher Variation um Kelters inzwischen allerdings auch nicht mehr ganz taufrisches Lieblingsthema "Heimat" geht, historisch unterfüttert, politisch akzentuiert und bisweilen ins Poetische gleitend. In Texten wie dem über die Stadt Meersburg oder dem über den Militärfriedhof von Sigolsheim im Elsass blitzen die andernorts vielfach bewiesenen Qualitäten dieses Autors auf. Für ein ganzes Buch aber ist das entschieden zu wenig.


Titelbild

Jochen Kelter: Ein Ort unterm Himmel. Leben über die Grenzen Essays und Texte.
Waldgut Verlag, Frauenfeld 2008.
154 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783037403853

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