Nationale Programmatik

Marco Puschner analysiert den "Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik"

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Vorstellung eines "romantischen Antisemitismus", wie sie bereits die im Jahre 2005 erschienene Studie von Wolf-Daniel Hartwich - "Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner" - im Titel evoziert, vermag wohl auf den ersten Blick zu befremden. Die Wortprägung "Antisemitismus" im Umfeld des Journalisten und Antisemiten Wilhelm Marr lässt sich bekanntlich ziemlich genau auf das Jahr 1879 datieren und suggeriert in ihrer um Wissenschaftlichkeit bemühten Form eine Koinzidenz mit der Entstehung einer neuartigen modernen Form antijüdischen Ressentiments. Diese fiele also in einen zeitlichen Zusammenhang mit der deutschen Reichsgründung und den Gründerkrisen in den 1870er-Jahren.

Lange galt denn auch in der Antisemitismusforschung als eine Art Faustregel, mit der Wortschöpfung sei zeitgleich auch der darin benannte Gegenstand erst entstanden. Tatsächlich erscheint aber sehr viel plausibler, das Spezifische des modernen Antisemitismus, das ihn von der herkömmlichen christlichen Judenfeindschaft unterscheidet, mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten und dem ihnen vorausgehenden und sie hervorbringenden Nationalismus in Verbindung zu bringen. Dies einmal angenommen ist es schlüssig, auch die Texte der deutschen Romantik im Hinblick auf Manifestationen des modernen Antisemitismus hin zu befragen.

Hier setzt die umfangreiche und nicht nur im wörtlichen Sinne gewichtige, von Gunnar Och betreute Dissertation Marco Puschners an, die im Sommersemester 2007 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen verteidigt wurde und im letzten Jahr in der von Hans Otto Horch herausgegebenen Reihe "Conditio Judaica" erschienen ist. Puschner diagnostiziert einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Nationalismus bereits für die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Zwar geht auch er weiterhin von der Nützlichkeit einer Unterscheidung von zwei Formen der Judenfeindschaft aus, dem jahrhundertealten christlichen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus, der mit Klaus Holz auch prägnant als "nationaler Antisemitismus" gekennzeichnet werden kann.

Anders aber als bislang noch vielfach vertreten, kann er auch die antijüdischen Ressentiments in einem Teil der literarischen Romantik in diesem Sinne bereits als modernen Antisemitismus bestimmen, weil sie mit den nationalistischen Positionen ihrer Autoren eng zusammenhängen. Zudem zeigt er im Anschluss an Studien von Hans Peter Herrmann und Hans-Martin Blitz, wie wenig tatsächlich auch schon für die vorausgehende Aufklärung zwischen einem "guten Patriotismus" und einem "aggressiven Nationalismus" unterschieden werden kann.

In einer ausführlichen Rekonstruktion einiger Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert kontextualisiert er historisch-systematisch seinen eigentlichen Forschungsgegenstand, den er sachlich zutreffend "politische Romantik" nennt, wobei er den Terminus in Abgrenzung zu seiner pejorativen Verwendungsweise bei Carl Schmitt versteht. Die untersuchten Zeitabschnitte dieses vorbereitenden Kapitels seiner Monografie reichen von den Arminius-Dramen aus den 1740er-Jahren über die Kriegslyrik Johann Wilhelm Ludwig Gleims, die Nationalgeist-Debatte, die Theorien Johann Gottfried Herders bis zum Nationalismus des Göttinger Hainbundes. Bereits in Johann Elias Schlegels Drama "Hermann. Ein Trauerspiel", 1743 im Druck erschienen, finden sich beispielsweise die Zeilen: "Wer Rom nicht hassen kann, kann nicht die Deutschen lieben. / Was theilest du dein Herz? Sey Treu mit ganzen Trieben: / Sey römisch oder deutsch! Itzt wähle deinen Freund: / Rom, oder deinem Volk sey günstig oder feind." Hier wird eine deutsche nationale Identität durch einen ausschließenden Gegensatz konstruiert.

Zur Klärung der drei Begriffe Antisemitismus, Nationalismus und Romantik und deren Verhältnis zueinander bezieht sich Puschner auch auf neuere Nationalismustheorien aus der Soziologie und vor allem der Historiografie. Die vorangestellte These des Historikers Kurt Lenk, dass auch der sogenannte "gesunde" Nationalismus das Potential seines angeblichen Gegensatzes enthalte, gibt die Richtung seines zugrundegelegten Verständnisses vor: jeder Nationalismus basiert auf Konstruktionen des Eigenen, die auf Beschwörungen des Anderen auch dann angewiesen sind, wenn diese nicht jederzeit aktualisiert werden.

Anhand der 1811 entstandenen Erzählung "Die Versöhnung in der Sommerfrische" des romantischen Schriftstellers Ludwig Achim von Arnim (1781-1831), auf den sich die Arbeit insbesondere bezieht, führt Puschner in sein Thema ein. In dieser Erzählung erkennt er einen frühen Belegtext, in dem die traditionelle Gegenüberstellung von Christen und Juden unter Beibehaltung des dualen Wertungsmusters auf eine neue Grundlage gestellt wird: die Opposition eines vermeintlich "jüdischen Wesens", das einem ebenso konstruierten "deutschen Wesen" kontrastiert. Folgerichtig stellt die Studie eine Untersuchung von Konstruktionen des "Deutschen" in der politischen Romantik dar, denen nicht zufällig als Komplementärbegriff das "Jüdische" entgegengestellt ist, worauf der Untertitel der Monografie bezug nimmt.

Das eigentliche Kernstück der Arbeit ist denn auch das Kapitel zur Frage von nationalem Engagement und antisemitischer Denunziation bei Ludwig Achim von Arnim, das alleine 150 Seiten umfasst. Singulär war wohl Heinrich Heines Position, der in seiner "Romantischen Schule" (1835) von Arnim noch in unmittelbarer Zeitgenossenschaft als bedeutenden Dichter charakterisierte, dem jedoch die ihm gebührende Anerkennung versagt geblieben sei. Tatsächlich wurde die Kritik der Zeitgenossen, die von Arnims Literatur Planlosigkeit oder Unordnung attestierten, von einer auf Johann Wolfgang von Goethe fixierten Germanistik bis in die 1950er-Jahre hinein tradiert, wie Puschner zeigt. Weil es dann zunächst vor allem die werkimmanente Methode war, durch die die Arnim-Forschung neue Impulse erhielt, und in jüngerer Zeit vor allem vom Poststrukturalismus beeinflusste Arbeiten, wurde die politische Konstruktion eines "deutschen" und eines "jüdischen Wesens" lange Zeit kaum adäquat behandelt.

Dennoch kann Puschner für seine Perspektive auf Vorarbeiten zurückgreifen. Neben frühen Hinweisen durch Josef Körner (1932) und Eckart Kleßmann (1969) nennt er die 1971 in Halle erschienene Dissertation "Arnim und Goethe" von Heinz Härtl als unentbehrlichen Ausgangspunkt sowie neuere Studien unter anderem von Stefan Nienhaus (1995, 2003 und 2005), Susanna Moßmann (1996), Birgit R. Erdle (1996) oder Ethel Matala de Mazza (1999), die alle der von Kleßmann formulierten Einsicht folgen, dass Arnims Motive auch "nationaler Natur" waren.

Wie komplex die politische Position Achim von Arnims aussah, arbeitet Puschner anschaulich heraus. So nahm von Arnim durchaus Ideen der Französischen Revolution in sein politisches Verständnis auf, ohne freilich den gewaltsamen Umsturz gutzuheißen. Durchgängig blieb er ein Anhänger des Feudalsystems. Puschner zeigt, wie politische Position und literarisches Werk bei dem Autor im Sinne eines operativen Literaturverständnisses zusammenhingen. Mit seiner Literatur zielte von Arnim darauf, eine "enge Verbindung" unter den "Deutschen" zu befördern, wie er bereits in einem Brief aus dem Juli 1802 an seinen Freund und späteren Mitherausgeber der Anthologie "Des Knaben Wunderhorn" Clemens Brentano (1778-1842) schreibt.

Bereits das im "Wunderhorn" propagierte Volksideal enthielt, wie Puschner weiter aufzeigt, einen antijüdischen Ausschlussparagrafen. Zum anderen tritt in dem programmtischen Essay, den Arnim der Sammlung beigab, neben der ungewöhnlichen Verbindung aus demokratischem Engagement bei gleichzeitiger Affirmation des bestehenden preußischen Feudalsystems eine Ambivalenz zutage, die Puschner als charakteristisch für die nationale Programmatik des Autors ausweist: der gewünschten Besinnung auf das "Eigene" kontrastiert die Aufforderung, "Fremdes" auszuschließen.

Im Essay sind damit die "welschen" Lieder gemeint, die in früheren Liedsammlungen Aufnahme gefunden hatten. Auch mit der Gründung der "Christlich-deutschen Tischgesellschaft" im Jahr 1811 verfolgte von Arnim ein nationales Projekt. Im ersten Halbjahr des Bestehens der Tischgesellschaft, das in jeder Hinsicht vermutlich als das intensivste der Gesellschaft gelten kann, entstanden gleich drei nationale und antisemitische Vortragstexte: Ludolph von Beckedorffs Abschiedsrede aus dem Juni 1811, das Lied "Die Glockentaufe" sowie die Rede "Ueber die Kennzeichen des Judenthums", die letzteren beide von Achim von Arnim.

Als politisches Motiv für deren Entstehung nennt Puschner die im Zuge der geplanten Reformen Karl August von Hardenbergs sowie jüdischer Assimilierungstendenzen brüchig gewordene Differenz zwischen Juden und Deutschen, die es nach von Arnims Ansicht wieder zu stabilisieren galt. In der Rede erscheinen "die Juden" als Bedrohung des Traums von deutscher ethnischer und kultureller Homogenität.

Puschner gelingt es darüber hinaus, das von Arnims "nationalpädagogischem Engagement" geschuldete antisemitische Ressentiment ebenso auch in einigen der bedeutendsten Erzählungen des Autors wie "Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe" (1812) oder "Die Majorats-Herren" (1820) nachzuweisen, ohne dabei deren komplexere Ästhetik zu vernachlässigen. Für "Die Majorats-Herren" rekonstruiert er einen Antisemitismus, der nicht mehr in das frühere duale Schema von "deutsch" versus "jüdisch" passt, weil dem Autor von Arnim inzwischen das Vertrauen auf die positive nationale Identität abhanden gekommen sei - das Ressentiment freilich war geblieben.

Dem Arnim-Teil folgt noch ein ebenfalls dicht gearbeitetes Kapitel zu Clemens von Brentano, das aber nur noch den halben Umfang besitzt. Das letzte, etwas kompiliert erscheinende Kapitel mit einigen jüdischen Reaktionen auf die "Germanomanie", vermag vielleicht insofern am wenigsten zu überzeugen, als auf Saul Ascher (1767-1822), der im Titel des Buches immerhin als dritter Autor und Antipode zu von Arnim und Brentano genannt wird, gerade einmal 16 Seiten entfallen. Ohnehin fragt sich allerdings, ob für die Analyse von Konstruktionen des "Jüdischen" und des "Deutschen" bei romantischen Autoren eine kontrastierende jüdische Perspektive unbedingt einzubeziehen ist. In weiteren hinführenden Kapiteln, auf die hier nicht eingegangen werden konnte, wurde anhand einer Fülle von Material das Verhältnis von Nationalismus und Antisemitismus bei unter anderem Johann Gottlieb Fichte, Heinrich von Kleist, Ernst Moritz Arndt oder Adam H. Müller dargestellt, so dass diesem letzten Kapitel im Sinne der zentralen These zumindest keine Beweislast mehr zukommt.

In der Summe aber muss der Studie größtes Lob zugesprochen werden. Die Gründlichkeit, mit der Puschner die vorhandene Forschung berücksichtigt - allein sein Literaturverzeichnis umfasst mehr als 70 Seiten - erscheint ebenso mustergültig wie die Sachlichkeit, mit der er seine zum Teil im Widerspruch zur bisherigen Forschung stehenden Ergebnisse vorträgt. Dass hie und da das Verhältnis von Fußnoten zu Fließtext unproportioniert erscheint, kann diesen erfreulichen Eindruck kaum trüben - eher schon der erstaunliche Verkaufspreis von 139,- Euro, der der großen Resonanz, die diesem wichtigen Forschungsbeitrag unbedingt zu wünschen wäre, doch erheblich entgegenstehen dürfte.


Titelbild

Marco Puschner: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des "Deutschen" und des "Jüdischen" bei Arnim, Brentano und Saul Ascher.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2008.
578 Seiten, 139,95 EUR.
ISBN-13: 9783484651722

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