Fremd- und Selbstbilder in Zeiten des Umbruchs
Der von Joachim Eibach und Horst Carl herausgegebene Sammelband „Europäische Wahrnehmungen 1650-1850“ untersucht interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Gibt es überhaupt Europäische Wahrnehmungen?“ Diese zugegebenermaßen allgemein gestellte Frage steht im Mittelpunkt eines Sammelbandes, der die Ergebnisse einer gemeinsamen Tagung des Gießener Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ und des Forschungszentrums Europäische Aufklärung in Potsdam vom 6. und 7. Mai 2005 enthält. Wie die beiden Herausgeber Joachim Eibach und Horst Carl im Vorwort betonen, überschreite der in der Reihe „The Formation of Europe / Historische Formationen Europas“ publizierte Band zur Beantwortung der Frage ganz bewusst die „klassische Epochenschwelle um 1800“, indem er den Zeitabschnitt von der Mitte des 17. bis zu der des 19. Jahrhunderts untersuche.
Beide Geschichtswissenschaftler gehen für die vorliegende Kompilation von zwei methodisch-inhaltlichen Achsen aus: Zum einen von Forschungsansätzen, die unter dem Begriff der Interkulturellen Kommunikation figurieren, hier „verstanden als stereotype Wahrnehmungen oder wechselseitige Kommunikationspraxis zwischen Kulturen“, zum anderen von der Erforschung von Medienereignissen als „Knotenpunkten kommunikativer Verortung, die sozial und räumlich ,grenzüberschreitende Wirkung‘ entfalten“. Gerade aufgrund ihrer plurimedialen Qualität sind sie, so Eibach und Carl, wesentlich an der Generierung und Strukturierung europäischer Wahrnehmungshorizonte im 17. und 18. Jahrhundert beteiligt.
Der Sammelband ist in zwei konzeptionelle Beiträge und zehn Fallstudien gegliedert. Gemeinsam sollen sie aufzeigen, dass beide Ansätze methodisch eng aufeinander beziehbar seien und zur Auslotung von Europa als historischem Wahrnehmungsraum beitragen könnten. Dabei beansprucht die Publikation nicht, ein historisches Selbstverständnis Europas zu definieren. Die Fallstudien fokussieren im Gegenteil einzelne Beispiele, die über sich hinaus auf Europäisches verweisen: „Es geht um Selbstverortung im Angesicht des Anderen, innerhalb Europas wie auch im Blick nach außen.“ Im Mittelpunkt des Interesses steht dasjenige Europa, das sich ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert langsam zu einem Kommunikationsraum in der „République des Lettres“ formieren sollte. Schließlich unterstreichen die Herausgeber ihre Absicht, lediglich einzelne Bausteine für eine mögliche Geschichte europäischer Wahrnehmungen liefern zu wollen.
„Die Geschichte der Selbstwahrnehmung Europas ist eine Geschichte der Wahrnehmungen des ,Anderen‘“, schreibt Joachim Eibach zu Beginn seines Beitrags „Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung. Typen der Wahrnehmung ,des Anderen‘ in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jahrhundert)“, mit dem der Sammelband eröffnet wird. Betrachtet man den Zeitraum von der Schwellenepoche um 1500 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der obigen Aussage, kann anhand der Perzeption des Fremden das Selbstverständnis der Europäer in all seinen Kontinuitäten und Brüchen nachvollzogen werden. Abhängig von den politischen und wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten und Ambitionen, aber auch den Hoffnungen und Ängsten der okzidentalen Gesellschaften gestaltet sich das Bild des Anderen – und darüber das des Eigenen. Dabei zeichnet sich der untersuchte Zeitabschnitt durch eine „Kontinuität stereotyper Wahrnehmungen ,des Westens‘“aus, gleichzeitig aber auch durch einen „frappante[n] Wandel der Einstellungen zu ein- und derselben ,Kultur‘.“
Mehrere Typen der Perzeption der Türken, Chinas und der Schweiz verdeutlichen in diesem Zusammenhang die Gleichzeitigkeit und Konkurrenz verschiedener Wahrnehmungsmuster. Beherrscht den durchaus als beispielhaft zu nennenden Diskurs um die Türkei noch das „eschatologische Paradigma“, das sie als „Gottesstrafe“ für die Sünden der christlichen Europäer verhandelt, verliert die „Türkengefahr“ nach der Niederlage der Osmanen 1683 vor Wien an Bedeutung. Sie weicht mehr und mehr einer Vorstellung des Orients als einer fantastischen Gegenwelt, „einer zugleich harmlosen wie herausfordernden Sphäre des Irgendwo, die offen war für träumerische Projektionen“.
Wie werden diese unterschiedlichen „Bilder“ genährt? Es sind vor allem Reiseberichte, die als Folge der weltweiten Expansionsbestrebungen europäischer Kolonialmächte bis in die Moderne hinein ständig neue, exotische(re) Themen finden und von einem neugierigen Publikum rezipiert werden. So besitzt diese Gattung bis in die Ära der Napoleonischen Kriege als „opinion maker“ einen großen Einfluss bei der (Re-)Produktion von Fremd- und Selbstbildern. Die Fülle an Schriften, die im Laufe der Frühen Neuzeit entstehen, stellt also nicht nur einen bedeutenden Textkorpus dar, auf den immer wieder zurückgegriffen werden kann, die allgegenwärtige Beschäftigung mit der Thematik bildet auch einen wichtigen „Aspekt europäischer Identität als Prozess permanenter Selbstvergewisserung“. So ermöglicht erst die Konfrontation mit dem Fremden die Entdeckung des Eigenen, seiner Vorzüge wie Nachteile.
Für die Fremdwahrnehmung beispielsweise in Reiseberichten gilt jedoch das Problem, dass das Andere in Bekanntes eingepasst werden muss, um es kulturell übersetzen und adäquat verstehen zu können. Ein positiver Aspekt dabei ist freilich die „Chance zu einer Falsifizierung bisher gültiger Muster“. Gerade in der „Sattelzeit um 1700“ ergeben sich – durch die „Tendenz zur Säkularisierung der Aufklärung, ihre Traditionskritik und das Postulat von Toleranz im Verbund mit Interesse an außereuropäischen Welten“ neue Möglichkeiten, das Fremde als solches zu beschreiben, ohne es sogleich den alt gewohnten Stereotypen zu unterwerfen. Die Neugier für die Quellen des Anderen führt hauptsächlich durch Übersetzung fremdsprachlicher Texte zu einem nüchternen Umgang mit dem Unbekannten, denn sie bedingt die „Entzauberung des Bedrohlichen und Vorbildlichen“.
Die europäische mind map erfährt dadurch in der Folge eine gewaltige Umwälzung. Dabei leistet eine weitere Entwicklung ebenfalls einen wichtigen Beitrag, mit der sich Thomas Weißbruch und Horst Carl in der zweiten konzeptionellen Studie „Präsenz und Information. Frühneuzeitliche Konzeptionen von Medienereignissen“ befassen: Denn ein zentraler Bestandteil oder sogar Movens des Prozesses der Fremdwahrnehmung ist die Verdichtung medialer Kommunikation in speziellen Medienereignissen. Neben dem Reisebericht und den Übersetzungsarbeiten spielt das an der Wende zum 18. Jahrhundert vergleichsweise noch junge Informationsmedium Zeitung schon eine Rolle bei der Gestaltung von Fremd- und Selbstbildern: „Durch den Druck waren die Informationen öffentlich in dem Sinne, dass sie prinzipiell jedermann zugänglich waren; der Informationsgehalt war gleichfalls nicht eingegrenzt, sondern bezog sich tendenziell auf die ganze Welt bzw. ihre ,Händel‘.“ Anders ausgedrückt heißt das, dass in der Frühen Neuzeit gerade in Gestalt transnationaler Medienereignisse interkulturelle Kommunikationsnetze geknüpft und immer differenziertere europäische Wahrnehmungshorizonte eröffnet werden.
Die zehn Fallstudien bieten schließlich sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Begegnungen mit dem Fremden. Der Beitrag von Hillard von Thiessen über „Konfessionelle Identitäten – hybride Praktiken. Katholische Konfessionalisierung im Konfliktraum des Fürstentums Hildesheim (1650-1750)“ sowie der von Matthias Georgi mit dem Titel „Christlicher Bedrohungsraum und protestantische Identität. Die englische Selbstwahrnehmung in der Debatte um das Erdbeben von Lissabon (1755)“ machen deutlich, wie kontextabhängig es ist, was als „Anderes“ empfunden wird: „Während ein Vorurteil vorherrscht, ist ein anderes bereits in nuce präsent, um später eventuell zu einer dominanten Einstellung gegenüber dem Fremden zu werden. ,Das Fremde‘ als solches wird quasi in verschiedenen Himmelsrichtungen […] verortet. Kollektive Haltungen zu ein- und derselben Kultur bleiben auch unter den relativ stabilen Strukturbedingungen der Frühen Neuzeit in diachroner Perspektive nicht ewig gleich; aber die mehr oder weniger gleiche Einstellung kann wandern, von einer als fremd konstruierten Kultur zur nächsten. Das ,uns‘ Nahe und das Ferne, das Gleiche wie das Fremde, Identität und Alterität, werden auf verschiedene Flächen projiziert.“
Zum anderen machen die Untersuchungen darauf aufmerksam, dass der Umgang mit dem Unbekannten stark differieren darf. So kann der Konfrontation mit dem Gegenüber offen begegnet werden, wenn man Gemeinsamkeiten sucht, die einander verbinden, wie die Studie von Stephan Theilig über „Die erste osmanische Gesandtschaft in Berlin 1763/64. Interkulturalität und Medienereignis“ zeigt. Es kann aber im Gegenteil auch eine Identitätsfindung durch Abgrenzung nach außen erfolgen wie James Lee mit „Preaching and the Politics of Hatred. The Catholics, the French and the Development of Englishness in Late Seventeenth-Century England“ verdeutlicht. Bezüglich des Letzteren heißt das: „Fremdwahrnehmungen beziehen ihre enorme Energie für die Ausformung kollektiver Identitäten nicht durch eine irgendwie ontologische Qualität des betrachteten Objekts. Prägend ist das Spannungsverhältnis, die Herausforderungslage aus der Sicht der erkennenden Subjekte. Diese Herausforderungslage korrespondiert häufig mit der (uneingestandenen) Erfahrung von Defiziten in der eigenen Lebenswelt.“
Ferner ist es aufschlussreich zu beobachten, zu welchem Zweck die Erfahrung des Anderen genutzt werden kann: Zum einen ist es möglich, wie Sven Trakulhan in „Nadir Schah (1688-1747). Persischer Kriegsheld und Usurpator. Revolutionen in Asien als Medienereignisse in Europa“ aufzeigt, negative Eigenschaften des Fremden für die Argumentation im eigenen Diskurs zu verwenden. Zum anderen gibt es Bestrebungen, das Andere mit Hilfe der Medien und auch der Naturwissenschaften als Faszinosum darzustellen beziehungsweise als Terra incognita zu profilieren, so geschehen in Joachim Rees‘ „Die zweite Entdeckung. Brasilien und die Expansion europäischer Bildmedien im frühen 19. Jahrhundert“.
Dies leitet über zu der letzten bedeutenden Entwicklung insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts, dass nämlich Fremderfahrungen mit Hilfe von Text- und Bildmedien zu Medienereignissen stilisiert werden, die, wie Susanne Lachenicht in ihrem Aufsatz „Das Hambacher Fest (1832). Ein nationales Ereignis in transnationaler Perspektive“ und Rolf Reichardt in seinem Beitrag „Barrikadenszenen der 48er Revolution. Plurimediale und internationale Wahrnehmung“ deutlich machen, Gemeinschaften stiftend wirken, indem sie Nationalstereotypen zurückdrängen, so dass letztlich von einer „visuellen Internationalen“ gesprochen werden kann.
Fasst man die Ergebnisse zusammen, die der Sammelband erzielt, so kann festgehalten werden, dass sich in der „République des Lettres“ eine „europäische“ Identität erst durch die ständige, reale Konfrontation und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ entwickelt. Dabei wird die Art der Perzeption des Fremden nicht nur durch die eigene Erfahrung, sondern für den Großteil vor allem durch die zeitgenössischen Medien der Kommunikation wie die Predigt und der Reisebericht, die Zeitung und das Journal bestimmt. Das image vom Anderen konstituiert sich sozial und grenzüberschreitend in „Medienereignissen“. Ob in inszenierten Festen am Hof, Naturkatastrophen, Kriegen oder Revolutionen – die in Zeiten des Umbruchs an der Wahrnehmung, Darstellung und positiven wie negativen Nutzbarmachung beteiligten Medien bestimmten in hohem Maße über die Fremd- und Selbstbilder. Dass dabei nationale und transnationale Wahrnehmungen im frühneuzeitlichen Europa sich ergänzen und gleichzeitig miteinander konkurrieren, ist gerade im Hinblick auf die Entstehung und Etablierung der modernen Nationalstaaten zu erklären, deutet diese Entwicklung schließlich trotz aller Gemeinsamkeiten in der Außenwahrnehmung auf die Verschiedenartigkeit und Vielfalt dieses Kontinents hin.
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