Wiederholungen einer Ur-Szene
Daniel Baranowskis Studie „Simon Srebnik kehrt nach Chelmno zurück“ ist eine veritable Pionierleistung in der „Lektüre der Shoah“
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseArbeiten, die sich mit großer Emphase auf den Dekonstruktivismus beziehen, sind in der Literaturwissenschaft rar geworden. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass solche Studien, um eine auch in Daniel Baranowskis Buch „Zur Lektüre der Shoah“ oft verwendete Worthülse zu zitieren, „immer schon“ mit der starken Abstrahierung ihres Jargons zu kämpfen hatten – und zwar nicht zuletzt dergestalt, dass sie mit unterkomplexen Kritiken bedacht wurden, die gar nicht erst versuchten, sich auf das begriffliche Niveau ihres Gegenstands zu begeben. Baranowski veranschaulicht dieses Verständnisproblem in seiner Studie an einer Stelle damit, dass der von ihm verwendete Begriff der „Verabgründigung“ im Duden und in anderen deutschsprachigen Wörterbüchern nicht zu finden sei. Seine Eingabe in die Suchmaske von Google aber führe zu der bezeichnenden Gegenfrage: „Meinten Sie: vereinsgründung?“
Nein, die adäquate Sprache für „Vereinsgründungen“ liefert der Dekonstruktivismus wohl wirklich eher nicht. Doch wieso geriet er dermaßen ‚aus der Mode‘? Vielleicht einfach deshalb, weil Germanisten, Kultur- und Medienwissenschaftler nach dem großen ‚Boom‘ der Schriften Jacques Derridas und anderer in den 1980er-Jahren in den Seminaren der geisteswissenschaftlichen Universitätsinstitute vergötterter Autoren der „Postmoderne“ bald ganz einfach keine Lust mehr auf die zermürbenden Debatten um die von vielen nur noch als bloße Wortklaubereien aufgefassten Probleme hatten. Jedenfalls ließ das Interesse an wissenschaftlichen Studien mit einem solchen theoretischen Hintergrund in den 1990er-Jahren doch merklich nach.
Besonders auch in der akademischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der „Darstellbarkeit“ beziehungsweise „Undarstellbarkeit“ von Auschwitz gibt es eine Tendenz, theoretische Ansätze der „Postmoderne“ ohne genauere Erörterungen terminologischer Feinheiten von vorneherein abzulehnen. Baranowskis Untersuchung aber unternimmt es, genau diesem Trend mit großem Aufwand entgegenzuarbeiten. Dieses Vorhaben versucht der Autor nicht zuletzt anhand einer nicht anders als akribisch zu nennenden Analyse von Claude Lanzmanns Filmen „Shoah“ und „Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures“ fruchtbar zu machen. Das Frappierende daran ist, dass es dem Autor hierbei tatsächlich gelingt, mit den Werken Jean-Francois Lyotards, Maurice Blanchots, Jacques Derridas und anderer Dioskuren der Zunft zu argumentieren, ohne dabei gleich in unverständlich bis sinnlos erscheinendes Kauderwelsch zu verfallen.
Besonders wichtig ist Baranowskis umfangreiche Arbeit aber vor allem auch deswegen, weil sie auf ihrer enorm reflektiert und problembewusst gehandhabten Theoriebasis so etwas wie eine Pionierleistung einer wirklich konkreten Auseinandersetzung mit Lanzmanns Filmen über die nationalsozialistischen Vernichtungslager leistet. Sieht sich Baranowski doch gezwungen, von dem erstaunlichen Befund auszugehen, dass es eine ernstzunehmende Forschung zu Lanzmanns Werken bisher noch gar nicht gebe: Der Film „Shoah“ werde zwar oft in Aufsätzen oder Büchern über das Thema der Judenvernichtung erwähnt, doch oft in offensichtlicher Unkenntnis oder gewollten Verzerrung dessen, was das 9-Stunden-Opus ausmache. Nicht zuletzt würden viele solcher Beiträge, wie Baranowski moniert, bequemerweise Zitationen von Interview-Aussagen Lanzmanns über dessen eigenen Film mit einer Analyse des Werks selbst verwechseln.
So kritisiert Baranowski etwa den Schriftsteller und Philosophen Tzvetan Todorov, der Lanzmanns Werk in seinem Buch „Angesichts des Äußersten“ (1993) abstruserweise ankreide, der polnischen Bevölkerung durch die akzentuierte Interviewauswahl seines Films kollektiven Antisemitismus vorzuwerfen. Baranowski hebelt diese irreführende Behauptung mit einer Reihe von Bezugnahmen auf einschlägige Szenen des Films souverän aus, nicht ohne nebenbei darauf hinzuweisen, dass der manifeste Antisemitismus vieler im Film sich äußernder Polen auch ganz ohne inszenatorische Eingriffe Lanzmanns erkennbar werde.
Dass Baranowskis Arbeit am Ende sogar auch noch einen Teil zur „Möglichkeit eines verabgründenden Schreibens“ bei W.G. Sebald enthält, wäre kaum noch nötig gewesen: Seine Studie überzeugt durch eine beeindruckend umfassende Kenntnis der internationalen, literaturwissenschaftlichen und philosophischen Debatten zur „Lektüre der Shoah“ – und allein schon das Close Reading, dass er jener knappen ersten Viertelstunde von Lanzmanns „Shoah“ widmet, die seinem Buch den Titel gibt und der Einleitung zu seiner Abhandlung vorgeschaltet ist, überzeugt auf Anhieb: „Simon Srebnik kehrt nach Chelmno zurück“.
In dieser Abfolge von neun Einstellungen, die nicht nur durch ihre offensichtliche Anspielung auf den Odysseus-Mythos umso abgründiger wirken, begleitet der Dokumentarfilmer Lanzmann den Überlebenden Srebnik auf seinem erinnerungsträchtigen Weg zu jenen Verbrennungsstätten im Wald bei Chelmno, an denen er als 13-jähriger Junge dabei helfen musste, hunderttausende ‚vergaster‘ Juden zu verbrennen, ihre Knochen zu zermalmen und ihre Asche in den nahen Fluss zu werfen. Zu Recht hat Baranowski in dieser Sequenz eine „Ur-Szene“ nicht nur für seine Arbeit erkannt – eine immer wiederholbare und zu wiederholende Geschichte, die bereits „in nuce die Geschichte der Shoah ist“.