Zu dieser Ausgabe

„Gebührt May eine Stelle im Kontinuum unserer Hochliteratur?“ So lässt Arno Schmidt einen der Sprecher in seinem frühen Hörfunk-Dialog über Karl May, „Vom neuen Großmystiker“ (1956), fragen. „Oder, anders formuliert: ‚Kann ihn ein denkender Mensch über 20, der inzwischen begeistert Goethe gelesen hat, Schopenhauer, die Romantiker: kann ein Solcher ihn noch mit Ehren in die Hand nehmen?‘“. Die Antwort des Gesprächspartners, dessen Stimme in einer Regieanweisung als „besonnen, positiv“ charakterisiert wird, lautet überraschenderweise: „Ich will noch knapper antworten: Ja!“

Ein paar Jahre später, 1961, sieht Schmidt die Sache offensichtlich bereits etwas differenzierter. In seinem dialogischen Essay „Old Shatterhand und die Seinen“ ist jedenfalls von einer für May typischen „Mixtur aus atavistischer Grausamkeit; chauvinistischem Schindludertreiben mit dem Wörtlein ‚deutsch!‘; schmalzigster Sentimentalität; und […] Frömmelei“ die Rede. Dass diese „speciöse ‚MAY=Mischung‘ dem ‚Deutschen Menschen‘ so wohl & lange mundet“, gebe doch „arg zu denken“. Schmidts anonymer Sprecher geht dabei von dem bemerkenswerten Befund einer sehr umfassenden Rezeption der Bücher Mays aus: „Denn seit 80 Jahren verschlingen die Kinder, ob mit Milchgebiß ob im Rauschebart, die dicklichen grellbedeckelten Bände; und nahezu Keiner lebt, der nicht ihren Einfluß empfunden, und, bei Gelegenheit, auch zum Ausdruck gebracht hätte.“

Ist das heute auch noch so? Oder hat es, was die Wahrnehmung des umfangreichen Œuvres Karl Mays betrifft, einen Paradigmenwechsel gegeben? Die aktuelle Ausgabe von literaturkritik.de nimmt den klassischen Ferienmonat August zum Anlass, um dem Kolportage-, Reise- und Abenteuerliteraten Karl May einen Themenschwerpunkt zu widmen. Verschiedene Essays ausgewiesener Experten und Literaturwissenschaftler eröffnen darin Perspektiven auf neuere Einschätzungen des Autors und führen gleichzeitig ein in sein Leben, sein Werk und seine Wirkung.

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

Ihr
Jan Süselbeck