Heureka! - der Unterschied zwischen Rationalität und Vernünftigkeit
Ulrich Pothast bereitet ein menschenangemessenes Konzept vor
Von Sabine Klomfaß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUlrich Pothast stellt in seinem Buch "Lebendige Vernünftigkeit" die These auf, dass Rationalität - verstanden als Verfahren zur Optimierung von möglichen Ergebnissen und in der Tradition der westlichen Philosophie als Spezifikum des Mensch-Seins überhaupt - nicht ausreicht, um menschliches Verhalten adäquat darzustellen: "Es ist eine elementare Erkenntnis über unsere eigene Verfassung als Personen, daß wir nicht immer das tun, was wir selbst für das Beste halten, was andere uns als das Beste demonstrieren, was wir moralisch oder nach sonstigen Normen tun sollten". Um dieses Manko auszugleichen führt er den Begriff der "lebendigen Vernünftigkeit" ein, unter dem er ein "spürendes", (noch) nicht sprachlich formuliertes Fassen und Wissen von je eigenen Zielen versteht.
Nach Pothast ist die rationale Diskussion von Argumenten selbst erst angesiedelt auf der Ebene dieser menschlich-spürenden Wertsetzung, die dessen ungeachtet oft mit Unklarheit verbunden sein kann. Als Beispiel mag eine Person gelten, die geradezu entgegen einer rational-einfachen Lösung den komplizierten und für sie selbst umständlichen Weg wählt. Verstehbar werden diese Entscheidungen, wenn überhaupt, durch den Versuch der Bewusstmachung dieser Ziele, gegeben in "spürender Körperlichkeit". So sagt Pothast: "Lebendige Vernünftigkeit ist schwerlich eine Sache sicheren Ausrechnens. Sie ist eher eine Sache des Sich-Klarwerdens bei unvollkommener Erkenntnis".
Für Pothast stellt sich das Problem, wie man denn diese spürende Erkenntnis überhaupt in Worten darstellen kann. Dazu unterscheidet er zwischen "Schlüssigkeit" und "Glaubwürdigkeit" eines Gedankens. Eine Formel zum Beispiel kann logisch richtig hergeleitet sein, ohne von uns verstanden und akzeptiert zu werden. Das Moment des Verstehens, das uns quasi 'überkommt', ist rational nicht zu erfassen. Es ist ein Erleben, das keinen Zweifel an der jeweiligen Richtigkeit einer Argumentation, einer Entscheidung oder auch einer Lebenseinstellung zulässt.
Durch dieses Verstehen ist nach Pothast auch eine tiefere Selbsterkenntnis möglich: Wir finden so die wahren Gründe, warum wir uns für das eine oder andere entschieden haben, obwohl diese Lösung nicht optimal (= nicht rational) erschien. Pothast will damit sagen, dass eine in diesem Sinne 'irrationale' Entscheidung doch die beste aller Möglichkeiten gewesen sein kann, wenn sie durch die "lebendige Vernünftigkeit" motiviert wurde. Dabei stellt sich die Frage, ob der Autor dadurch nicht die "Vernünftigkeit" hinterrücks wieder mit rationalen Gründen zu erklären versucht.
So sind auch Pothasts Beispiele (von sich opfernden Müttern, frustrierten Ehefrauen und sich selbst als besorgtem Vater) mehr als Versuche zu sehen, eine in seinem Sinne "vernünftige" Entscheidung gerade doch als optimal herauszustellen. Folglich bleibt er bei dem Versuch, seine "lebendige Vernünftigkeit" zu begründen und zu zeigen, dass sie ein Gut darstellt, dem rationalen Denken verhaftet, eben durch seinen Versuch der Begründung selbst. Es ist nicht ersichtlich, warum für einen solchen Vernunftbegriff überhaupt rationale Kriterien gelten oder gelten sollten.
Pothasts Konzeption hat aber auch einen entscheidenden Vorteil gegenüber traditionellen Rationalitätstheorien, wie folgendes Beispiel belegen soll: Die Evolutionstheorie geht davon aus, dass zum Zweck der Gattungserhaltung bestimmte rationale Entscheidungen (wie zum Beispiel bei Gefahr das Selbstopfer für die Nachkommen) getroffen werden. Pothast weist auf, dass das unbedarfte "Postulieren unbewusster Rationalität" in diesem Falle durch das Fehlen von Zeugen nicht mehr als eine bloße Behauptung darstellt. Seine Konzeption der "Vernünftigkeit" jedoch lässt keinen Zweifel an den wie immer anders gearteten Gründen für diese Entscheidungen offen, da sie verstehend erlebt werden als den ureigensten zentralen Zielen entsprechend: "Es erscheint wesentlich glaubwürdiger, dass die schlichte Elternliebe zu den Überlebens- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit gehört, als dass ein unbewusster, rationaler Kalkül dazu gehört." Es ist also die Gewissheit des Selbst-Durchlebens, die Pothasts Beschreibung "zur Vorbereitung eines menschenangemessenen Konzepts" der aktuellen Rationalitätsdebatte voraushat.