Eine Liebe im Land der Improvisation

Arnold Thünker erzählt in „Anne und Paul“ das Märchen eines ungleichen Paares zu Zeiten der deutschen Teilung

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines Tages, als es ihm wieder einmal nicht besonders gut geht, kramt Paul, ein Mann in den Vierzigern, seine alten Liebesbriefe hervor. Dabei fällt ihm nach vielen Jahren ein Schreiben Schwester Clarissas wieder in die Hände, in dem sie ihn bittet, die inzwischen in ihrem Kloster lebende Anne zu besuchen. Der wiederentdeckte Bried erinnert Paul an die vor mehr als zwanzig Jahren gemeinsam mit seiner jüngeren Schwester Vera unternommene Fahrt nach „drüben“: Zum ersten Mal war der Jugendliche, der jedoch bereits „ganz nahe am Mann“ war, ohne die Eltern zu der namenlosen Tante mütterlicherseits unterwegs gewesen. Der Besuch bei ihr bildet die Binnenerzählung des Romans.

Am Anfang ist das Klischee. Die Bahnfahrt der Geschwister mit dem Interzonenzug vom Rhein nach Halle an der Saale lässt an Erzählungen von Bekannten denken, die selbst dort zu Besuch waren: Schokolade und Bananen für die Verwandtschaft im Osten, ältere Westdeutsche, die auf „die Kommunisten“ schimpfen und DDR-Grenzbeamte, die alles genau kontrollieren – auch die Teddybären der Kinder, die sie im Zweifelsfall auseinander nehmen, wenn die rote Lampe des Detektors aufleuchtet. Das alltägliche Geschäft der Einreise zu Zeiten der deutschen Teilung.

Die Bilder, die Arnold Thünker nach dem Eintreffen der beiden bei der Familie, die in einem Dorf in der Nähe von Bitterfeld lebt, aneinanderreiht, bleiben allerdings nicht bei den bekannten Vorstellungen stehen. Durch eine Art „filmischer Erzählung“ gelingt es ihm, eine Dichte herzustellen, die die Atmosphäre, die „drüben“ bis zur Wende 1989 geherrscht hat, aus der „Westperspektive“ gut wiedergibt. Als Leser hat man das Gefühl, mit auf eine (Entdeckungs-)Reise in den Osten genommen zu werden, in ein Land, das gleichzeitig ganz nahe und doch fern erscheint. So ist man bei Pauls Erlebnissen mit der Familie, auf deren Hof, in der nahen Kreisstadt oder während eines Kurztrips zur Wartburg immer nahe beim Geschehen und erhält durch die Schilderungen einen plastischen Eindruck von den Lebensbedingungen in der DDR.

Der Roman schaut hinter die Fassaden der „sozialistischen Gesellschaft“. Und diese funktioniert überhaupt nicht so, wie es die ostdeutsche Führung propagierte: „Die Rede des Parteigenossen vom Bezirk hat etwas von einem Lappen, der immer wieder über den Tisch gezogen wird, alles verteilt, was keiner haben will, eine Zukunft, die sehr viel später beginnen wird.“ Und auch ihr Versuch, den Dingen mit neuen Bezeichnungen wie „Kapselheber“ für Flaschenöffner, „Frauenberufsmantel“ für Kittelschürze oder „Weichraumcontainer“ für einen normalen Sack einen besseren Anstrich zu verleihen, heben nicht das Lebensgefühl der Menschen dort: „Nein, neue Worte machen das Leben nicht einfacher, machen keinen neuen Staat.“

Auch innerhalb der Familie spürt Paul den Missmut gegen die offizielle Politik: Opa Walter schießt des Nachts mit seiner Flinte auf vorbeifahrende sowjetische Panzer und denkt voller Wehmut an die Zeit, als die Russen noch nicht da waren. Hans, der Sohn der Tante, hilft einem desertierten Soldaten der Roten Armee bei dessen Versuch, an die Ostsee zu kommen, um von dort in den Westen zu fliehen. Und sie selbst bewahrt voller Trotz den Schlüssel zur nahe gelegenen Kirche, die seit Jahren verfällt, weil nur wenig für ihre Restauration getan werden kann.

Thünkers Buch schildert auf nüchterne Art das Wirtschaften der örtlichen LPG, die leeren Regale in den Läden von „Konsum“ und den illegalen Tauschhandel mit Nahrungsmitteln und Baumaterialien. Es zeigt die Geschicklichkeit der Menschen, auf ihre Weise mit der Mangelwirtschaft zu Recht zu kommen, aber auch die Angst der meisten vor dem „System“ und ihren Rückzug in die private Idylle, wo sich der eine oder andere ab und an einen politisch inkorrekten Witz erlaubt.

Dabei wird die Kritik in „Anne und Paul“ nicht direkt geäußert. Im Gegenteil fließt sie in Thünkers Erzählung mit, scheinbar ohne viel Aufhebens. Dennoch, trotz aller Probleme, die die Menschen bewegt, fehlt es auch in ihrem Leben nicht an schönen Momenten – zumindest aus Sicht des jugendlichen Verwandten aus dem Westen. Für ihn hat das Wenige den Schein des Besonderen. Seine Freude am kleinen Glück ist besonders groß: „Paul sticht es in der Nase. Der Tisch ist gedeckt. Den Geruch von solch würzig geräuchertem Speck gibt es nur im Reich der Tante. Paul liebt ihre übersichtliche Welt. Alles ist einfach und schlicht. Im ersten Augenschein vielleicht ärmlich, aber spätestens, wenn alle zusammen am Tisch sitzen, verwandelt sich die große Küche in einen Gutsherrensaal.“

Vielleicht verhält es sich im Fall von Anne ähnlich. Sie tritt erst in der zweiten Hälfte des Romans in Erscheinung: Obwohl das Mädchen, um die 20, gelähmt ist und im Rollstuhl sitzt, eine verwachsene Hand hat und eines ihrer Augen beständig nach rechts schaut, ist sie nicht unglücklich mit ihrer Lage. Im Gegenteil, sie ist aufgeweckt, neugierig und „krempelt Paul sein Herz um“. Es ist eine seltsam verborgene Liebe, eine, von der alle in ihrer Umgebung wissen, aber von der sie nicht sprechen. Nur einmal erzählt Onkel Tom, der Ehemann der Tante, den anderen ein „Märchen vom ungleichen Paar“.

Schämt sich Paul wegen Annes Behinderungen, wenn er ihr nur verstohlen Küsse auf Wangen und Hände gibt? Empfindet er mehr, als er wahrhaben möchte? Wenn es auch der Fall sein sollte, er unterlässt es, ihr von seinen Gefühlen für sie zu erzählen. Und dann ist der angenehme Aufenthalt bei der Tante plötzlich zu Ende. Polizei und Stasi-Mitarbeiter tauchen auf dem Hof auf und stellen Fragen wegen des verschwundenen Rotarmisten. Die unbeschwerte Zeit ist vorbei, aber „Paul verspricht zu schreiben, wiederzukommen, schöne Sachen zu schicken, verspricht alles“.

Arnold Thünker nimmt den Leser auch in seinem – nach „Keiner wird bezahlen“ (2004) – zweiten Roman auf eine Zeitreise in eine Epoche mit, die lange her zu sein scheint und doch bis noch vor zwei Jahrzehnten Normalität im geteilten Deutschland war. Durch die Art seiner Darstellung, die Auswirkungen des „real existierenden Sozialismus“ mikrokosmisch, nämlich am Beispiel einer Familie und ihrer näheren Umgebung aufzuzeigen, bringt er dem Rezipienten den Alltag in der ehemaligen DDR mit seinen Unfreiheiten und Handlungsmöglichkeiten, den Versorgungsengpässen und der Notwendigkeit zu Improvisationen nahe.

Damit erfüllt „Anne und Paul“ auch eine Forderung von Joseph Roth, die Thünker seinem Roman als Motto vorangestellt hat: „Aus dem Vergehenden, dem Verwehenden das Merkwürdig und zugleich Menschlich-Bezeichnende festzuhalten ist die Pflicht des Schriftstellers.“ Ob bezüglich des Politischen, des Alltagslebens oder der Liebesbeziehung zwischen Anne und Paul – Thünkers zweites Buch beeindruckt durch eine besondere Sensibilität in der Beschreibung und Darstellung: Während der Erzählung hält er immer wieder inne, um den Leser die Erlebnisse bewusst wahrnehmen, „das Glück“ trotz oder eher gerade wegen der zahlreichen Mängel im Kleinen und Unscheinbaren suchen zu lassen.

Für die unterschiedliche Wahrnehmung desselben steht auch das „ungleiche Paar“: Während Paul nicht ehrlich mit sich ist, seine Liebe zu Anne verdrängt und mit den Jahren unglücklich und alkoholabhängig wird, bewahrt sie sich trotz ihres vergleichsweise harten Schicksals ihre Lebenslust und Frische. Im Gegensatz zu ihm nimmt sie ihr schwieriges Dasein an und kann sich dadurch von aller Last freimachen: „Die Seele und die Unendlichkeit gehören mir, ich bin furchtbar neugierig und habe nichts in Händen. Das ist die Erde für uns Menschen.“

Titelbild

Arnold Thünker: Anne und Paul. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.
160 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462040753

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