Splitter im Kopf

Tom McCarthys „8 ½ Millionen“ ist ein Roman über eine Krankheit

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Einstiegsszenario ist simpel: Einem Mann fällt etwas auf den Kopf. Er wird schwer verletzt und verliert das Bewusstsein, landet im Krankenhaus, liegt im Koma und ist erst nach Monaten wieder körperlich gesund. Er erhält achteinhalb Millionen englische Pfund als Entschädigung, denn er kann sich an nichts mehr erinnern. Er hat sein Gedächtnis verloren und das Gefühl, wer und was er ist. In diesem Zustand der Orientierungslosigkeit versucht der Protagonist, ein normales Leben zu führen, landet aber immer wieder am Rand von Lethargie, Depression und Hoffnungslosigkeit. Trotzdem gibt es bei ihm die Hoffnung, etwas an diesem Zustand der Schwebe ändern zu können. Ein Lichtblick begegnet ihm auf einer Party, wo ihm ein Riss an einer Wand in einem Badezimmer bekannt vorkommt, ihn an sein vorheriges Leben erinnert und ein bisher unbekanntes Glücksgefühl auslöst.

Der Mann beschließt, die Möglichkeit auf dieses „Glück“ nicht verlieren zu wollen. Er beginnt, das „Glückserlebnis“ zu konservieren und zu reproduzieren, indem er den Ort nachbaut, die Situation rekonstruiert, an dem ihm der Glücksmoment zuteil geworden ist. Die nötigen Mittel stehen ihm aus seiner Unfallentschädigung zur Verfügung. Er beginnt mit der Dokumentation des Risses – und damit gleichzeitig mit der Konservierung der Erinnerung. Zuerst muss ein Badezimmer gefunden werden, es muss in dem passenden Haus liegen, in dem Haus müssen die „richtigen“ Menschen wohnen et cetera. Es wird eine vollständige Szenerie entworfen, die wie ein Filmset organisiert wird. Die Bestandteile von „Wirklichkeit“, an die sich der Protagonist erinnern kann, werden nachgebaut. Handlungen und Bewegungsabläufe werden von den „gemieteten Hausbewohnern“ einstudiert und damit beliebig wiederholbar gemacht. Dabei bleibt der Wunsch nach Konservierung des Erinnerten und nach Reproduktion bekannter Abläufe und Gefühle nicht auf das Haus beschränkt. Es werden Straßenszenen „eingefroren“ und nachgespielt. Eine Szene in einem Geschäft für Autoreifen erweckt das Interesse des Protagonisten, und letztendlich wird sogar ein Banküberfall nachinszeniert.

Der Leser beobachtet mit dem Protagonisten zusammen eine merkwürdige Veränderung der Wirklichkeit. Anfangs ist es eine Idee: „Plötzlich war mir vollkommen klar, was ich mit meinem Geld machen wollte. Ich wollte diesen Ort rekonstruieren und ihn betreten, damit ich wieder das Gefühl haben konnte, echt zu sein, wirklich.“ Irgendwann stellt sich der Protagonist ebendiese Frage nach der Wirklichkeit, nach dem „echt sein“: „Das war eine sehr gute Frage. Ich war in den vergangenen Monaten so beschäftigt gewesen, so getrieben, war von Projekt zu Projekt gehetzt, von den Gebäude-Nachspielen zur Reifenwerkstatt und dann zu den Schießereien, dass ich gar nicht dazu gekommen war, innezuhalten und Bilanz zu ziehen, sie zu vergleichen und gegenüberzustellen und über die Frage nachzudenken: Welches hat am besten funktioniert? Sie hatten alle dasselbe Ziel gehabt, ein einziges Ziel: mir zu erlauben, mich als fließend zu empfinden, als natürlich, mit Aktionen und Dingen verschmelzen zu können, bis mich nichts mehr von ihnen trennte“. Als sich letztendlich die nachgespielte Wirklichkeit in das „richtige Leben“ verlagert und ein vermeintliches Nachspiel eines Bankraubes zum wirklichen Bankraub wird, ist zwar der Wunsch des Protagonisten in Erfüllung gegangen und das Nachspiel durch die Wirklichkeit ersetzt worden, die Wirklichkeit aber zur Katastrophe mutiert.

Spätestens an dieser Stelle des Buches wird dem Leser klar, das McCarthy die Biografie einer Krankheit geschrieben hat, die in ein unterhaltsames Gewand gekleidete Geschichte eines Traumapatienten, dessen Realitätswahrnehmung verschoben ist und es letztendlich auch bleibt. In der sensiblen Übersetzung von Astrid Sommer ist es ein Buch geworden, das vor allem aufgrund seiner ungewöhnlichen Thematik Aufmerksamkeit verdient.

Titelbild

Tom McCarthy: 8 1/2 Millionen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Astrid Sommer.
Diaphanes Verlag, Zürich 2009.
302 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783037340554

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