Literaturdidaktik als Integrationswissenschaft?

Über die dritte Auflage der Einführung „Literaturdidaktik Deutsch“ von Ulf Abraham und Mattis Kepser

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine spontane „Online-Studie“ vorweg: Recherchiert man bei Google das Stichwort „Literaturwissenschaft“, liefert die Suchmaschine etwa 13,5 Millionen Fundstellen, der Eintrag „Germanistik“ erzeugt immerhin noch 2,5 Millionen Treffer, „Deutschunterricht“ kommt auf 650.000 Meldungen, „Literaturunterricht“ auf rund 111.000 Einträge und „Literaturdidaktik“ gerade einmal auf 41.000 Nachweise (Stand: August 2009). Nach der Lektüre der neu bearbeiteten und erweiterten Auflage des Einführungswerkes „Literaturdidaktik Deutsch“ von Ulf Abraham und Matthis Kepser, Deutschdidaktiker an den Universitäten Bamberg beziehungsweise Bremen, hätte man sich gewünscht, dass der Befund nicht so eindeutig zu Ungunsten der „Literaturdidaktik“ ausgefallen wäre.

Allerdings liefern Abraham und Kepser in ihrer verständlichen und terminologisch präzise formulierten Arbeit eine Erklärung für das wenig überzeugende Ergebnis gleich mit. Die Deutsch-Didaktik als normative und deskriptive Disziplin, die einer kulturellen Praxis im Umgang mit Literatur gewidmet sei, habe sich erst in den letzten Jahrzehnten an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen im deutschsprachigen Raum etabliert. Als neuartige Disziplin stünde sie einerseits auf den Fundamenten der traditionellen Deutschlehrer-Ausbildung, die seit dem 19. Jahrhundert institutionalisiert sei, andererseits beschäftige sie sich gegenwärtig als weitgehend eigenständiges Fach „mit der wissenschaftlichen Erschließung des kulturellen Handlungsfeldes ‚Literatur‘ in Bezug auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Lehr-/Lernkontexte.“

Insofern setzen sich die Autoren das Ziel, in sechs Kapiteln Studierenden, Lehrkräften und Ausbildern im tertiären Sektor das Selbstverständnis, den aktuellen Forschungsstand sowie potentielle Anknüpfungs- und Handlungsfelder der „eingreifenden Wissenschaft“ aufzuzeigen. Dazu akzentuieren sie zunächst den Begriff „Literatur“, der erstens für die Literaturdidaktik das sein könne, was in der universitären Germanistik darunter verstanden werde. „Zweitens könnte man den schulischen Gebrauch untersuchen. Was im Literaturunterricht verhandelt wird, ist dann die Literatur der Literaturdidaktik. Und drittens wäre danach zu schauen, welche Gegenstände in den kulturellen Praxen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als Literatur eine Rolle spielen.“ Die Autoren plädieren für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit allen drei genannten kulturellen Erscheinungsformen von Literatur und beabsichtigen eine kompetente Teilhabe an ihr – nicht nur von Schülern, sondern auch von Adressaten im außerschulischen Kontext.

Das umfangreiche zweite Kapitel fahndet nach dem spezifischen Beitrag des Literaturunterrichts für diese Intention. Ausführlich referieren die Autoren diverse Ansätze des sogenannten Kompetenzbegriffs und schlussfolgern kritisch und mit hohem Problembewusstsein, derzeit dominiere den pädagogischen Diskurs ein empirisch-pragmatisches Verständnis. Daneben sei aber auch zu berücksichtigen, dass der Kompetenzerwerb von zielgerichteter Lesesozialisation und -förderung sowie einer dezidierten, integrativ ausgerichteten Sprach- und Medienreflexion abhänge.

Kompakte Ausführungen zur Historie des Literaturunterrichts folgen: „Historische Bildung“, „Gesinnungsbildung“ sowie „ästhetische Bildung“ seien in mehr als 200 Jahren konkurrierende Ansätze gewesen, deren Erkenntnisse in nuce bis in die Gegenwart unter den Begriffen „analytischer“ beziehungsweise „handlungsorientierter Literaturunterricht“ nachwirkten.

Konsequenterweise widmen sich die Autoren anschließend den „gegenwärtigen“ Konzepten für den Literaturunterricht. Als fächerintegrativ, lernbereichsintegrativ, lernbereichsspezifisch oder gegenstandsspezifisch sind die Extremkonzepte benannt, systematisiert und ausführlich dargestellt. Sie stellen jeweils vor, „was warum von wem zu lesen und wie zu behandeln sei“. Ausdrücklich plädieren Abraham und Kepser für den Einbezug des Spielfilms als eigener Gattung sowie für eine Emanzipation der Kinder- und Jugendliteratur als eigenem didaktischen Feld.

Dass die Einführung auf der Höhe der aktuellen erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Diskussionen operiert, belegt das Kapitel über „Medien und Literaturunterricht“. (Schul-)Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Hefte, verbale und nonverbale Äußerungen, Filme, Tafel, Overheadprojektor, Pinnwand, Lernplakat, Übungshefte, DVD, Internet sowie die Lehrkraft als „personales Medium“ werden jeweils medienspezifisch und didaktisch gewürdigt, um im abschließenden Kapitel zu „Muster, Phasen und Verfahren des Literaturunterrichts“ zu gelangen. Im Rückgriff auf den Erziehungswissenschaftler Hilbert Meyer stellen die Autoren Modelle vor, „die im Handeln und in der Reflexion von Lehrkräften die Planung von Unterricht organisieren.“ Im Einzelnen geht es u. a. um so heterogene Aspekte wie „Phasenmodelle für die Organisation von Literaturunterricht“, Verfahren der Texterschließung und Interpretation sowie – was häufig von solchen Einführungen ausgeblendet wird – um Probleme der Leistungsmessung im Fach Deutsch.

So bietet die dritte Auflage des Einführungswerkes im Vergleich zu den Ausgaben von 2004 und 2006 eine deutliche Erweiterung des Textteils um knapp 50 Seiten. Gründlich überarbeitet und aktualisiert wurden auch die Literaturangaben, wobei kritisch angemerkt sei, dass mancher Nachtrag im Text nicht immer den Weg ins Literaturverzeichnis findet. Abgerundet wird der Band durch ein hilfreiches Stichwortverzeichnis.

Man konsultiert die dritte Auflage mit großem Gewinn und zieht vor dem Fach- und Problemwissen der Autoren den virtuellen Hut. Es gelingt ihnen, den Stand der Literaturdidaktik präzise zu analysieren und zu reflektieren, zugleich zeigen sie mögliche Entwicklungsfelder auf. Bei all ihren Ausführungen scheinen sich Abraham und Kepser bewusst zu sein, dass die Beschäftigung mit Literatur ein hohes Potenzial hat, welches durch sach- und methodenbewusste Lehrkräfte zu aktivieren ist. Daher gilt: „Literatur kann den Einzelnen kognitiv, sozial oder emotional entlasten, Ich-Entwicklung unterstützen oder zur Übernahme von Fremdperspektiven befähigen […]. Sie kann kollektiven ästhetischen Genuss bieten […] und einen Beitrag zur kulturellen Kohärenzbildung leisten …[…] Aber Literatur tut dies nicht von alleine.“

Titelbild

Ulf Abraham / Mattis Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. neu bearbeitete Auflage.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2009.
304 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098835

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