Brückenbauer mit Holzschiffchen

Zum Tod und Vermächtnis von Hugo Loetscher: „War meine Zeit meine Zeit“

Von Jolanda HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jolanda Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der am 18. August dieses Jahres verstorbene Schriftsteller Hugo Loetscher war der „Kosmopolit unter den Schweizer Autoren“, der von seinen Reisen in alle Welt immer in seine Heimatstadt Zürich zurückkehrte. Er war Sammler, Brückenbauer, Causeur, Flaneur, ein feuriger Mensch (Sternzeichen Schütze), dies trotz der Vorliebe für das Element Wasser: vor allem für die Sihl. Er, der ungefragt auf die Welt gekommen war, fühlte sich dem „maltraitierten“ Fluss zeitlebens verbunden. Dorthin setzte er als Junge das Holzschiffchen, als Mann erzählt er „dem Wasser von heute von gestern“. Die Reise beginnt.

Die „mindere“ Sihl, der Proletenfluss, fliesst in die „berühmte“ Limmat, den zweiten Fluss, der durch das bürgerliche Zürich fliesst. Auch wenn Loetscher lange Jahre an der Limmat gelebt hat, fühlte er sich immer (auch) als Prolet, der als „Secondo“ aus dem Innerschweizer Entlebuch nach Zürich immigriert war. Sozusagen als Beobachter hat er sich als Erwachsener an der Limmat niedergelassen und ist gegenüber der Welt immer genauer Beobachter geblieben. Das spürt man beim Lesen an der Distanziertheit, mit der er von seinen Erlebnissen berichtet. Gefühle oder Sentimentalitäten kommen fast keine auf, auch wenn er von schlimmen Ereignissen berichtet: „Wir waren gewarnt vor Schneerutsch und Steinschlag, doch bei einer Gletscherwanderung fiel einer meiner Gespanen in eine Spalte. Als der Scharführer ihn an einem Strick hochzog, riss dieser; mein Kumpan, schon fast am Tageslicht, stürzte zurück, durchschlug einen Absatz, der seinen Füssen noch Halt geboten hatte. Er fiel in eisiges Dunkel. Noch Nächte später schreckte ich aus der Tiefe eines Schlafes auf, weil ich seinen Schrei vernahm.“ Mehr Gefühl gibt’s nicht, die Bergtour geht weiter.

Er ist „Extrembeobachter“ nicht nur dann, wenn er von der Besteigung des 8000ers erzählt – die er allerdings vor dem Fernseher mitverfolgt. Und er hat wie der ständige Begleiter im Buch, der immer eine Reise mehr gemacht und ein Buch mehr gelesen hat, selbst immer ein Buch mehr gelesen, er, der aus einem Handwerkerhaushalt stammt und, wie seine Mutter mit den Karten voraussagt, einmal etwas Besseres werde. Mit seinem Vater verband ihn nicht viel, und einmal nur stellte sich eine Empfindung der Nähe ein: als jener dem Sohn beim Bau eines Büchergestells half. „Wir spürten, wie fremd wir einander waren, und waren uns nie so nah gewesen.“

Die Sihl und die Limmat sind bald ganz fern, wir reisen zum Amazonas, an die Seine, an den Gold River, den Euphrat, die Spree oder an ein anderes Gewässer, das ostchinesische Meer, die Nordsee, das Mittelmeer. Loetscher war in Brasilien, Portugal, Spanien, Thailand, Rumänien, Ägypten, Frankreich, Deutschland und immer wieder in der Schweiz und in Zürich. Bodenständig blieb er in vielen Büchern, die er schrieb: gesellschaftskritisch in „Abwässer“ (1963) und der „Waschküchenschlüssel und andere Helvetica“ (1983), den Ort seiner Kindheit beschreibend in „Die Kranzflechterin“ (1964), Aussenseitern verbunden in „Saison“ (1995) und „Der Buckel“ (2002), kritisch gegenüber der Literatur und den Literaten in „Lesen statt Klettern“ (2003) oder gegenüber dem eigenen Schreiben in „Vom Erzählen erzählen“ (1988), immer wieder autobiographisch in „Der Immune“ (1999), „Die Papiere des Immunen“ (1986) oder „Die Augen des Mandarin“ (2002).

Loetscher wurde ein Brückenbauer: vom Journalismus zur Literatur, vom Schreiben zum Reden, von der fernen Welt zur nahen Umgebung in der Schweiz und vice versa. Die Golden Gate Bridge hätte er gerne gebaut und die Sihl über und nicht unter dem Zürcher Hauptbahnhof durchfliessen sehen. Eine Art Brückenbau sind auch seine nachdenklich machenden Assoziationen – wenn das kleine Negerlein aus seiner Kindheit, das als Münzen- und Spendensammler in vielen Schweizer Schulzimmern stand, mit dem Kopf nickt oder wenn er für einen afrikanischen Jungen Geld sammeln und diesem ein Studium ermöglichen möchte und er von seinen Kommilitonen patriotisch nach den Schweizer Bergbauern gefragt wird, die das Geld doch auch nötig hätten.

Wer denkt, Hugo Loetscher sei im letzten Kapitel „daheim“ angekommen, irrt sich. Er, der Atheist, steht nun zwar auf der Kanzel im Zürcher Grossmünster, doch die Gedanken ziehen wieder in die Ferne: über das Kerzenziehen mit den Nichten und das Kerzenverkaufen als Student zu den Mai-Festtagen in Zürich, den Juni-Festtagen in Portugal und zu den Raketen im „ariden Nordosten Brasiliens“, die als Regenrufer dienen. Dann aber ist die Reise doch auch ein Zu-sich-Kommen, wenn auch von mehreren Ichs: Hugo Loetscher spielt Theater mit seinen Inkarnationen, in denen als eine Figur „Nur-der-nicht“ vorkommt. Auch Hugo Loetscher hat sich demnach nicht immer gemocht. Er wäre gerne einmal Vater gewesen („Ich beobachte mit Neid, was es heisst, Vater zu sein.“) und sein Schwulsein im konservativen Zürich der früheren Jahre hat ihm zu allem anderen einige hinterlistige Prügel eingebracht. Trotz unendlicher Möglichkeiten bleiben die spielbaren Rollen im Leben begrenzt.

Der Grundton des Buches ist melancholisch, doch welches Zurückblicken ist das nicht immer ein wenig, selbst wenn man ein erfülltes Leben hatte. Immer wieder aber scheint der witzig-lakonische Hugo Loetscher durch, den wir aus seinen früheren Büchern schon kennen.

„Was, wenn die Zeit Wasser wäre und ich darin ruhelos unterwegs meine Schleifen zöge, keiner Worte bedürftig und spurenlos.“ Hugo Loetscher als das Holzschiffchen, das er einst in die Sihl gesetzt hatte, die letzte Spur also nicht die Inschrift „Hugo was here“ auf dem Grabstein neben den Jahreszahlen. Das Holzschiffchen begleitet die Lesenden durch das ganze Buch und ruft den jungen Hugo Loetscher in uns wach. Doch im Gegensatz zum Schiffchen, das keine Spuren auf dem Wasser hinterlässt, legt Hugo Loetscher ganz viele Spuren, entlang derer wir ihm immer wieder begegnen können – und letztendlich in seinen Reflexionen über die Welt auch uns.

Titelbild

Hugo Loetscher: War meine Zeit meine Zeit.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
410 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067163

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