DDR mal anders

Über „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ von Rayk Wieland

Von Janine BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Janine Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir wissen es alle. Vor 20 Jahren fiel die Mauer. Die DDR war über Nacht zur Vergangenheit geworden, tausende Deutsche hüben wie drüben lagen sich in den Armen und feierten die neue Freiheit. Wie könnte man es nicht wissen, in einem Jubiläumsjahr und einer wahren Bücherflut zum Thema?

Und dennoch wartet der Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ von Rayk Wieland mit dem Satz auf: „Die Geschichte dieses Buches beruht auf einer wahren Begebenheit. Die DDR hat es wirklich gegeben.“

Hinter dieser lakonischen Feststellung jedoch verbirgt sich eine Geschichte, die abstruser kaum sein könnte. Sie offenbart bei allem Ernst, der angesichts der Stasimethoden geboten ist, auch die Tölpelhaftigkeit dieses Überwachungsapparats – und wie die paranoide Akribie gegen mögliche Abweichler das eigene System der Lächerlichkeit preisgibt.

Die Geschichte geht so: „Eines Tages findet Herr W. eine Einladung in der Post. Er wird zu einer Podiumsdiskussion unbekannter Untergrunddichter der DDR eingeladen. Aber ist er überhaupt gemeint? War er je als Dichter auffällig geworden? Nicht, dass er wüsste. Widerwillig beschließt er, Einsicht in seine Stasi-Akte zu nehmen.“ So sagt es der Klappentext.

Was folgt, ist eine Reise in Herrn W.’s Jugend in der DDR und zu Erinnerungen an Erlebnisse, die Herrn W. selbst schon längst entfallen waren. Ja, da hatte es eine große Liebe gegeben. Damals zu Studienzeiten. Jahrelang hatten sich Herr W. und Liane aus München Liebesbriefe geschrieben. Die von W. so geistreich wie spitzfindig verfassten Gedichte rührten offensichtlich nicht nur Liane, sondern auch Oberleutnant Schnatz von der Stasi. Wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Denn natürlich wurden die Briefe abgefangen, von der Stasi gelesen und auf ihre Weise interpretiert.

Aus: „Absprache erwünscht / In München: du. / Ich: in Berlin. / Hätt nichts dagegen, / Mal umzuziehn. / Ich wär bei Dir. / Eh du dich versiehst. / Wenn Du nicht zugleich / nach Berlin umziehst!“ leitet Oberstleutnanat Schnatz „objektive Verstöße“, „feindl. neg. Inhalte“, Verschleierung d. Verbind“, „konkrete Republikflucht-Vorh.“ ab. Solche und ähnliche, oft seitenlange Gutachten findet Herr W. nicht selten in seiner Akte. Und mehr noch. Nicht nur wurde seine Post gefilzt, auch Spione wurden abkommandiert, die ihn – als Freunde getarnt – unter Alkohol setzten, um ihm Gedichte zu entwenden.

In unverhohlen sarkastischem Tonfall beschreibt W. denn auch seine Mitgliedschaft in der sogenannten Gruppe 61. Einer oppositionellen Gruppe mit Untergrundaktivitäten, wie W. aus seiner Stasi-Akte erfährt. Von 1983 bis 1989 wurde vergeblich nach der Gruppe gefahndet und trotz allen Bemühungen zum Trotz kriegte die Stasi die Gruppe nicht zu fassen.

Konnte sie auch gar nicht. W. hatte Liane eines Tages versprochen, er werde eine Vereinigung zur Verlängerung der Zeit gründen. Die Gruppe 61. Jede Minute sollte um eine Sekunde verlängert werden. Dann käme für die durch die Mauer Getrennten einiges an Zeit zusammen. In Briefen hatten die beiden immer wieder von „Gruppe 61 bereitet neue Aktionen vor“ oder „ich denke die ganze Zeit an die Gruppe 61“ geschrieben. Mehr als eine verrückte Idee, geboren aus der Verzweiflung über die Unmöglichkeit einer Liebe zwischen West und Ost, hatte nicht dahinter gesteckt.

Dass er 20 Jahre nach dem Fall der Mauer als Ehrengast bei einem Symposium für unbekannte Untergrunddichter der DDR einen Vortrag halten soll, findet W. geradezu lächerlich. Hatte er nicht lediglich ein paar gewitzte, aber belanglose Liebesgedichte geschrieben? Rayk Wieland zeigt in seinem von viel Witz und Ironie getragenen Erfahrensbericht, welche grotesken Auswüchse im Überwachungssystem der DDR möglich waren und eröffnet gleichwohl den Diskurs darüber, ob ein jahrelang Observierter, einer, über dessen Privatleben auf Schritt und Tritt Buch geführt wurde, der als „hochgradig verdächtig“ galt und lange Zeit mit einem Bein im Gefängnis stand, ohne von alldem etwas zu ahnen, als Opfer gilt.

W. selbst scheint sich da nicht sicher zu sein. Das Symposium besucht er jedenfalls nicht. Das ausgerechnet seine Stasi-Akte jenes Medium sein würde, das seine Gedichte wieder zutage fördert und ihm Ruhm und Ehre für schriftstellerische Untergrundaktivitäten zuteil werden lässt, hätte er sich sicher nicht träumen lassen.

Ob es sich bei Herrn W.’s Geschichte um eine wahre Begebenheit handelt? Ausdrücklich mit ja wird diese Frage nicht beantwortet. Jedoch sprechen das Namenskürzel des Protagonisten, ein Personenregister mit vollen Namen und Auskünften darüber, was aus den einzelnen Personen geworden ist sowie der Abdruck einiger Auszüge aus der Stasi-Akte für sich.

Titelbild

Rayk Wieland: Ich schlage vor, dass wir uns küssen. Roman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2009.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975530

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