Der Soldat in der Gesellschaft
Bernhard R. Kroener eröffnet Einblicke in die Militärgeschichte
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür den oberflächlichen Blick ist Militärgeschichte nichts anderes als Kriegsgeschichte. Schlachten, exzessive Gewalt, das Leid der Opfer auf der einen Seite – die Selbstzufriedenheit staatstreuer Historiker, die heroische Kämpfer feiern oder vergangene Feldzüge auf mögliche Lehren für die Gegenwart hin nachzeichnen, auf der anderen.
Das Bild ist nicht ganz unzutreffend für einen Großteil der Kriegsgeschichtsschreibung bis 1945 und noch für die selbstverklärenden Erinnerungen, die manche Nazi-Generale nach ihrer Niederlage zu Papier brachten. In der ernsthaften Historiografie aber hat, nachdem Militärgeschichte für einige Zeit ein Nischendasein fristete, bereits seit einigen Jahrzehnten eine Neuorientierung eingesetzt. Im Gefolge der sozialgeschichtlichen Wende in der Geschichtswissenschaft überhaupt wurde deutlich, dass der Krieg nur einen Extremfall in der Geschichte des Militärs darstellt und dass Fragen zum Beispiel nach dem Verhältnis von Militär und ökonomischer Entwicklung, nach dem von Armee und technologischem Fortschritt, nach Formen soldatischen Wohnens im Kontext der Stadtplanung, überhaupt nach den alltäglichen Lebensverhältnissen der Soldaten und der gegenseitigen Beeinflussung von Militär und Zivilbevölkerung für die Sozialgeschichte von großer Bedeutung sind.
Bernhard R. Kroener hat als langjähriger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts und an der Universität Potsdam als Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt großen Anteil an dieser Neuorientierung. Zu seinem sechzigsten Geburtstag ist eine Auswahl seiner Schriften erschienen, die das weite Spektrum seiner Forschungen zeigt.
Es mag verwundern, dass unter den zahlreichen Publikationen Kroeners ausgerechnet ein umfangreicher Forschungsbericht von 1988 als Eröffnung des Bandes ausgewählt wurde. Doch obwohl der damalige Stand des Diskussion in vielem überholt ist, ist der Beitrag doch geeignet, die militärhistorischen Grundpositionen des Verfassers zu klären, wie auch der folgende Beitrag zum „Militär in der Gesellschaft“ von 2000, der ebenfalls eine Art Forschungsbericht darstellt.
Die Vorteile von Kroeners Methodik bleiben vergleichsweise undeutlich in jenen neueren Aufsätzen, die sich an aktuellen Strömungen zur Erforschung des kollektiven Gedächtnisses orientieren. Zwar nimmt man dankbar zur Kenntnis, dass hier die in der Kulturwissenschaft üblich gewordenen seitenlangen Referate der Erkenntnisse von Maurice Halbwachs und der Assmanns, die viele Aufsätze so redundant erscheinen lassen, fehlen und dass Kroener sich streng an der Sache orientiert. Auch ist, was Kroener über die nationalpolitische Indienstnahme des protestantischen Schwedenkönigs Gustav Adolf sowie der Schlachten von Leuthen, Sedan, Langemarck und Stalingrad mitzuteilen weiß, historisch höchst differenziert und erlaubt erhellende Einblicke, wann und warum ein Stoff mythenfähig wurde – und wann warum nicht. Doch interessieren noch mehr jene Beiträge, die statt der Erinnerung an die Ereignisse den Ereignissen selbst gewidmet sind.
Im Überschneidungsraum beider Ansätze ist ein Aufsatz zu situieren, der an die Niederlage von Stalingrad und Goebbels’ berüchtigte Sportpalast-Rede mit dem Aufruf zum totalen Krieg anknüpft. Hier leistet Kroener insofern eine Entmythisierung, als er zu zeigen vermag, dass aus pragmatisch-propagandistischen, aber auch grundsätzlichen ideologischen Erwägungen der Rede zunächst wenig an Praxis folgte. Zwar führten die immensen Verluste der Wehrmacht zu regimeinternen Konflikten, was zu unternehmen sei. Doch setzte sich bis ins Jahr 1944 die Linie durch, Frauen und Jugendliche nicht ohne Einschränkungen in die Kriegsanstrengungen einzubeziehen, und wurden die deutschen Ressourcen über mehr als ein Jahr nach Stalingrad noch keineswegs „total“ mobilisiert.
Im Überschneidungsfeld von Militär- und Kriegsgeschichte findet sich der Aufsatz zum Heeres-Offizierskorps in der NS-Zeit, der eine Modernisierungsgeschichte nachzeichnet. Gab es 1932 gut 3.700 aktive Heeresoffiziere, so ist die Zahl derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg irgendwann – bis zum Tod oder zur Gefangennahme – zu dieser Gruppe gehörten, auf etwa eine halbe Million Personen zu veranschlagen. Eine solche Ausweitung binnen kürzester Zeit sprengte traditionelle Formen der Kooptation. Sowohl die Rekrutierung aus den „gewünschten Kreisen“ von Adel und gehobenem Bürgertum als auch Forderungen der bürgerlichen Moral und die persönliche Kontrolle des Regimentschefs über die ihm Untergebenen verloren an Bedeutung.
Das Ergebnis ist ambivalent zu beurteilen, insofern einerseits restriktive Moralgesetze beseitigt wurden und Unterschichten vorher kaum denkbare Aufstiegschancen erhielten, andererseits traditionelle Formen der Gruppenloyalität unterhöhlt wurden: Wer den Nazis seine Karriere verdankte, war häufig auch bereit, regimekritische Bemerkungen nationalkonservativer Offizierskollegen zu denunzieren.
Das widersprüchliche Verhältnis von Demokratisierung und Herrschaftssicherung ist auch Thema von Kroeners Aufsatz zum „Integrationsmilitarismus“ vor allem im zweiten deutschen Reich. Dem immer noch geläufigen Geschichtsbild entgegen, dass sich das Bürgertum im Kaiserreich ganz an den Normen der adligen Offizierswelt ausgerichtet habe, zeichnet Kroener nach, wie sich die Normsysteme wechselseitig durchdrangen und entwickelten. Schließlich war die Forderung nach Volksbewaffnung zunächst eine Forderung des nationalistischen Bürgertums gewesen, und tatsächlich eröffnete die Armee Aufstiegschancen und gewann im Offizierskorps Leistungsdenken – auf Kosten von Standeskritierien – immer mehr an Bedeutung.
Die anderen Beiträge greifen weiter in die Vergangenheit zurück. So widmet sich Kroener der Frage, wie im Siebenjährigen Krieg Preußen sich gegen eine Vielzahl von Gegnern behaupten konnte. Eine Vielzahl von Faktoren führte dazu, dass die an Bevölkerungszahl und militärisch-ökonomischen Ressourcen weit überlegenen Gegner ihr Potential nicht ausnutzen konnten: Schwächen der Militär- wie auch der Zivilverwaltung, Ausrüstungsmängel, fehlende Verkehrswege, eine mangelhafte Koordination der unterschiedlichen Armeen. Man könnte Kroeners Aufzählung noch die englischen Hilfszahlungen hinzufügen, die allein es Friedrich II. ermöglichten, nach verlorenen Schlachten eine neue Armee aufzustellen.
Wurden die innereuropäischen Kriege des 18. Jahrhunderts von stehenden Heeren ausgefochten, so kannte die Frühe Neuzeit Söldner und Kriegsunternehmer, die zuweilen aus ideologisch-religiöser Überzeugung, aber immer aus materiellen Gründen agierten. Zur Entstehungszeit der früheren Aufsätze wirkte eine solche Kriegsorganisation wohl befremdlich und musste der an moderne Staatenkriege gewöhnten Leserschaft erklärt werden; seitdem aber die USA im Irak Privatunternehmen für Sicherheitsaufgaben einsetzen, wird man solche Formen des Krieges nicht mehr ohne weiteres für anachronistisch halten.
Zwei Aufsätze sind dem soldatischen Leben im Dreißigjährigen Krieg gewidmet. Kaum eine Armee in der Geschichte hat einen schlechteren Ruf als die Truppen jener Zeit: Man stellt sie sich vor allem raubend, folternd, plündernd und vergewaltigend vor. Das ist nicht ganz falsch, auch wenn Kroener in seiner quellengestützten Darlegung schildert, dass die regulären Truppen häufiger als das Klischee es will Disziplin wahrten und die Mehrzahl der Verbrechen jenen Marodeuren zuzurechnen ist, die durch Verletzung oder Krankheit für den Kriegsdienst nicht mehr brauchbar waren. Diesen Personen blieben weder zivile noch militärische Erwerbmöglichkeiten.
Insofern sie stehlen mussten, um nicht selbst zu verhungern, war ihre Lage ein Extrem der soldatischen Versorgung überhaupt. Kroener gelingt es, trotz mangelhafter Quellenlage an einigen Beispielen die Zuweisungen an die Truppen mit dem ins Verhältnis zu setzen, was bei den Soldaten wirklich ankam. Ein Großteil des Geldes verschwand in den Taschen und Säcken der Offiziere und der Kriegslieferanten, die die eigentlichen Gewinner des Krieges waren. Auf der untersten Hierarchieebene hingegen waren die Verluste durch Hunger, Seuchen und Kälte häufig größer als die durch Kämpfe. Ein eigener Beitrag stellt Erwerbsmöglichkeiten und Lebensrisiken der Frauen im Militärtross dar.
Die Frage, wie mit dem besiegten Feind umzugehen sei, wurde in der Kriegsgeschichte sehr unterschiedlich beantwortet. Man kann sie ritterlich lösen: Im Mittelalter hatten die gefangenen Adligen Rechte, das Fußvolk wurde erbarmungslos niedergemacht. Die Verlagerung der Kriegsführung auf die Infanterie zu Beginn der Frühen Neuzeit führte zu keiner Humanisierung: Kroener nennt in seinem übergreifenden Beitrag zu „Forms and Means of Violent Conflict in the Early Modern Ages“ Beispiele, wie in den Schweizer Separationskriegen zunächst in Einzelfällen bereits besiegte Feindtruppen abgeschlachtet wurden, wie später Söldnertruppen ihre Professionalität unter Beweis stellen wollten, indem sie möglichst wenig Gnade zeigten. Jenseits solcher marktstrategischer Erwägungen sieht Kroener einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den damaligen Staatenbildungskriegen, in denen sich die Kämpfer oftmals gegenseitig für illegitim hielten, und den Staatenpositionskriegen späterer Jahrhunderte, in denen die Gegner das Recht zur Kriegsführung gegenseitig anerkannten. Doch auch bei letzteren differenziert Kroener, nämlich zwischen Konflikten mit west- und mitteleuropäischen Gegnern einerseits, transkulturellen Konflikten andererseits. Eine prekäre Zwischenstellung nahmen Kriege mit Russland, vor allem aber mit dem osmanischen Reich ein.
Auch hier unterscheidet Kroener genau zwischen verschiedenen Phasen. Die Scheu vor allzu schnellen Verallgemeinerungen, der nüchterne Blick auf je spezifische geschichtliche Lagen sind überhaupt die Stärke dieser Beiträge, die sechs Jahrhunderte abdecken und sowohl kriegsgeschichtlich als auch sozial- und militärgeschichtlich wertvolle Einblicke bieten. Man kann ein wenig am Formalen mäkeln: Register wären ebenso wünschenswert gewesen wie eine etwas aufmerksamere Korrektur. Man kann im Detail über Einschätzungen streiten: Ob es im deutschen Faschismus eine „geistige Orientierungslosigkeit der intellektuellen Elite“ gab oder nicht die radikalen Teile dieser Elite genau wussten, wohin sie wollten, wäre zu diskutieren. Doch liegt insgesamt ein instruktiver Band vor, der Bedeutung und Leistungsfähigkeit der Militärgeschichte eindrucksvoll demonstriert.
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