Von der Kunst des Rezensierens

Über Albrecht von Haller als Kritiker der „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Man gab mir das Amt eines Richters der Bücher: ich mußte sie lesen, in einen Auszug bringen, und mit einem Zeichen unterscheiden, ob ich die Schriften guthieß. Ich zog einen blauen Kreiß um den Namen des Verfassers, wenn sein Werk mir misfiel, und die Billigung drückte ich mit einem rothen Kreise aus. Ich tat nach meiner besten Einsicht, ich sparte dennoch aus Menschenfreundschaft meinen blauen Pinsel“.

Diese Worte, die Albrecht von Haller in seinem Staatsroman „Usong“ der Figur Oel-fu in den Mund legt, charakterisieren das Vorgehen des philanthropisch gesinnten Kritikers. Ob Haller selbst ein solcher Kritiker war, wenngleich seine Rezensionen nicht nur Rücksicht auf die Verfasser, sondern auch auf das Lesepublikum nahmen, verrät jetzt die profunde und facettenreiche Studie von Claudia Profos Frick.

Allein die Quantifizierung von Hallers kritischer Tätigkeit bei den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ lässt ehrfürchtig staunen: Zwischen 1745 und 1777 verfasst Haller ca. 9.000 Rezensionen und führt, um angemessen urteilen zu können, eine Korrespondenz von ca. 17.000 Briefen, die in ihrer Ausdehnung von Moskau bis Dublin sowie von Stockholm bis Malaga reicht. Es wundert daher nicht, dass die Erscheinungsorte der von ihm besprochenen Titel die geografische Landkarte von nahezu Gesamteuropa abbilden – was Profos durch eine grafische Darstellung plastisch visualisiert.

So groß der Textfundus an Rezensionen ist, so spärlich sind die Studien, an die Profos anknüpfen kann. Dabei kann dieser Umstand nicht der Erreichbarkeit der Originaltexte geschuldet sein, da sich die „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ inzwischen bequem über das Göttinger Digitalisierungszentrum abrufen lassen.

Dass dem nicht so ist, hat Profos schon in ihrem 2008 erschienenen Beitrag über Hallers „Literaturkritik“ betont, der einen vorläufigen Aufriss der Forschungsergebnisse ihrer Dissertation enthält und der in dem Sammelband „Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche“ erschienen ist. Diese Ergebnisse werden in der vorliegenden Studie in der gebotenen Tiefe entfaltet und in elf klar strukturierten Kapiteln vorgestellt.

Beeindruckend ist vor allem die thematische Reichweite dieser Kapitel: Neben Abschnitten über Hallers Selbstverständnis als Kritiker, seine Anforderungen an eine faire und gründliche wissenschaftliche Rezension sowie seine Vorstellung über die Wirkung auf den Leser besticht die Arbeit durch die Erschließung inhaltlich zentraler Kontexte. Dazu zählt zum einen der Vergleich mit anderen ‚Groß-Kritikern‘ wie Gottsched oder Lessing, deren unterschiedlicher Urteilsstil anhand von Johann Peter Uz’ „Lyrischen Gedichten“ exemplarisch vorgeführt wird, zum anderen der Vergleich mit Rezensenten der „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ selbst, wie etwa dem Altphilologen Christian Gottlob Heyne.

Ein Schwerpunkt der Studie liegt darüber hinaus auf der produktiven Einbeziehung moderner elektronischer Analyseinstrumente. Im Rahmen des Methodenteils wird nicht nur die eigens angelegte und öffentlich abrufbare Datenbank sehr ausführlich – das heißt sogar mittels mehrerer Screenshots – vorgestellt. Auch wird im siebten Kapitel die Analyse von Hallers Vokabular anhand einer computerphilologischen Methode vollzogen, die genauere Erkenntnisse über die sprachliche Gestalt seines Rezensionsstils gewinnen lässt, da sein Sprachgestus in ein differenziertes Spektrum von Wertmaßstäben eingeordnet wird.

In der Rekonstruktion erscheint Hallers Anliegen als ein doppeltes: Wie Profos resümiert, habe er in seinen Besprechungen versucht, „gegründete Critik“ zu üben und die rezensierten Titel möglichst voreingenommen und sachlich vorzustellen. Andererseits sei es ihm insbesondere angesichts der besprochenen französischen Literatur um die Beförderung der deutschen Literatur gegangen. Anzumerken bleibt hier, daß sich beide Ziele nicht problemlos miteinander in Einklang bringen lassen, wie Profos etwa anlässlich von Hallers Diderot-Rezensionen unterstellt.

Denn der Beiname „der Encyclopediste“, den Haller Diderot in seiner Besprechung von dessen Schauspiel „Le Fils naturel“ gibt, impliziert zu dieser Zeit eine bereits deutlich pejorative Tendenz, wie schon Peter-Eckhard Knabe in seiner Studie über „Die Rezeption der französischen Aufklärung in den ,Göttingischen Gelehrten Anzeigen’“ (1978) aufgewiesen hat. So heilig Haller die eigenen Rezensionsgrundsätze gewesen sein mögen; es gab durchaus Fälle, in denen er die eigenen Prinzipien unterlaufen hat.

Unabhängig von diesem punktuellen Einwand bereitet die Arbeit durch den vielseitigen Kenntnisreichtum, die präzise Argumentation und den gefälligen Stil großes Lesevergnügen. Ein umfangreiches Verzeichnis von Hallers literaturkritischen Rezensionen runden den Band ab. Wäre man jetzt in der Rolle Oel-fus, würde man sofort zwei rote Kreise um den Namen der Verfasserin machen.

Titelbild

Claudia Profos Frick: Gelehrte Kritik. Albrecht von Hallers literarisch-wissenschaftliche Rezensionen in den "Göttingischen Gelehrten Anzeigen".
Schwabe Verlag, Basel 2009.
450 Seiten, 61,50 EUR.
ISBN-13: 9783796524349

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