Wo die Löwen wohnen
Heinrich Detering überzeugt mit seinem neuen Gedichtband
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Wenn irgendwo die Schrift erscheint / Hic habitant leones / So ist vermutlich Wrist gemeint / Ich weiß es Ich bewohn es“ – so beginnt das Titelgedicht in Heinrich Deterings neuem Gedichtband, dem zweiten nach „Schwebstoffe“ (2004) oder sogar dritten, wenn man das vergriffene Jugendwerk „Zeichensprache“ (1978) mitzählt. „Hier wohnen die Löwen“: Das geht zurück auf den alten Brauch, in den unerforschten Randgebieten von Landkarten Raubtiere und Seeschlangen einzuzeichnen. Damit zeigte man an, dass diese Gegenden fern der Zivilisation lagen, und dass man wenig bis nichts über sie wusste.
Solch ein Ort am Rand der Welt ist es auch, den Detering besingt. Dabei liegt das reale Wrist in den holsteinischen Weiten zwischen Kellinghusen und Bad Bramstedt, verschlafene Peripherie und Ort der Transzendenz zugleich: „Hier wird ich sein, wenn nichts mehr ist / nicht Löwe Land noch Karte / Die Ewigkeit sieht aus wie Wrist / Ich habe Zeit Ich warte“.
Auch wenn nicht alles in diesem Band so zwingt und swingt wie dieses Poem, klingt hier ein wichtiges Grundthema an: der Zauber der norddeutschen und dänischen Provinz. Hier gibt es Gedichte über verlassene Ziegeleien ebenso wie über Autohäuser in Elmshorn, dörfliche Kindheitserinnerungen oder Zugfahrten nach Hannover; ob dort rettungslose Ödnis oder die metaphysische Erleuchtung wartet, ist selten sicher. Das changiert, oftmals in ein und demselben Gedicht, wie im wunderbaren „Eidersperrwerk“: „die Mündung der Sorge in die Treene / die Mündung der Treene in die Eider / die Mündung der Eider ins Meer // es geht sehr langsam hier mit den Flüssen […] am Eidersperrwerk rauscht es einmal auf / schäumend und sprühend stäubt auf zum Himmel / dann wird Wasser zu Wasser zu Wasser.“
Aber Wrist ist keine Sammlung norddeutscher Provinzlyrik. Ebenso oft geht es um Reiseeindrücke aus Warschau und Kunstbegegnungen in Colmar, um die Überschreibung schwedischer Lyrik oder die Düsternis des Alterns, mal in leichtfüßiger Mischung aus deutschen und englischen Phrasen, mal in ebenso strengen wie lakonischen, reimlosen Zeilen. Das zweite Gravitationszentrum des Bandes ist die Literatur: Gedichte über eine Fotografie des alten Wilhelm Raabe; die Abwesenheit der Nordsee in der Kindheit Friedrich Hebbels, der doch in Dithmarschen aufwuchs; ebenso vernichtende wie gelungene Zeilen über Josef Weinheber und Johannes R. Becher und ihren Opportunismus gegenüber Faschismus beziehungsweise Stalinismus; ein Poem über die sterbende Irmgard Keun.
Nun ist Schreiben über das Schreiben natürlich nichts Neues in der Lyrik. Für den 1959 geborenen Detering gehört die intensive Auseinandersetzung mit der Literatur jedoch zum Beruf. Seit 1995 hat er verschiedene Professuren in der Literaturwissenschaft bekleidet, seit 2004 lehrt er wieder in Göttingen, wo er bereits Ende der 1980er-Jahre promoviert hatte. Nun gibt es unter Literaturwissenschaftlern einen gewissen Standesdünkel gegenüber schreibenden Mitgliedern der eigenen Zunft, auch wenn die Vorbehalte meist eher diffus bleiben: Kann man überhaupt anschreiben und bestehen gegen die kanonischen Autoren, die man alltags unterrichtet? Läuft man als akademischer poeta doctus nicht Gefahr, bloß trockene Gelehrsamkeit abzusondern? Bei näherer Betrachtung ist das allerdings Unsinn: wissenschaftliches und poetisches Können stehen in keiner festen Relation zueinander.
Auf den zweiten Blick gibt es mehr dieser Doppelbegabungen, als man denkt. Man nehme nur den zu Recht gefeierten W. G. Sebald, von dem viele gar nicht wissen, dass er zu Lebzeiten Professor für Germanistik im britischen Norwich war, oder – das liegt noch näher – Deterings Generationsgenossen Dirk von Petersdorff und Christof Hamann, die ebenfalls hohes schriftstellerisches Können und wissenschaftliches Know-How auf sich vereinigen. In dieser Nachbarschaft ist der schmale Gedichtband gut aufgehoben, und dort sollte er seine Leser finden: In der pulsierenden Mitte der Gegenwartsliteratur – nicht an den Rändern, wo die Löwen wohnen.
|
||