Heiligabend ist der Himmel blaugefroren

Die Tagebücher einer im KZ ermordeten jungen Frau namens Ruth Maier

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tagebücher unbekannter Menschen werden der Nachwelt gemeinhin nicht in gedruckter Form zugänglich gemacht. Es sei denn, sie hatten ein ganz außergewöhnliches Schicksal. Auch die bereits jung verstorbene Wienerin namens Ruth Maier war bis zur Publikation ihrer Tagebuchaufzeichnungen keineswegs bekannt. Und ihr Schicksal war nicht einmal außergewöhnlich. Denn furchtbarer Weise teilte sie es mit Millionen anderer JüdInnen, die wie sie in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden. Aber genau aus diesem Grund ist die Veröffentlichung ihrer Tagbücher nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu ein Muss. Denn es sind nicht nur die grauenerregenden Zahlen der Opfer nationalsozialistischer Massen- und Völkermorde, sondern vielleicht mehr noch das Wissen um die persönlichen Dramen der ermordeten Menschen mit ihren von den Nazis auf so grausame Weise zerstörten Hoffnungen, Wünschen und Sehnsüchten, wie sie etwa Hélène Berr in ihren ebenso klarsichtigen wie anrührenden Tagebüchern und eben auch Ruth Maier festhielten, die das Bewusstsein um das Menschheitsverbrechen Shoah und das (Ge‑)Denken an die Opfer lebendig halten.

Ins erste der insgesamt acht erhaltenen Tagebücher trägt Ruth Maier, die damals noch keine junge Frau, sondern ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren war, meist kleine Alltagsbeobachtungen und ‑erlebnisse ein. Selbstverständlich wird die Heranwachsende schon bald darauf von ihren ersten Liebesgefühlen umgetrieben, die sich durchaus nicht eindeutig und ausschließlich auf das andere Geschlecht richten. Den Gedanken, womöglich homosexuell zu sein, scheint sie da allerdings noch so sehr zu fürchten, dass sie ihn kaum zu denken wagt.

Dabei reflektiert sie schon früh über ihre Art, Tagebuch zu führen. So notiert sie am 4. April 1936: „Es gibt zwei Arten von Leuten, die Tagebücher schreiben. Die einen schreiben wirklich aus einer innern Stimmung heraus. Die anderen in der heimlichen Hoffnung, dass ihr Tagebuch einmal von einem unbekannten Mäzen entdeckt wird und als ein Muster von was weiß ich für jungfräuliche und schamhafte Empfindungen Sensation machen wird. Manchmal gehöre ich zu den einen, dann zu den anderen.“ Auch später schaltet sie immer wieder Reflexionen, literarische Versuche und Personenbeschreibungen zwischen ihre Tagebucheintragungen. Zwar sind Maiers erste literarische Versuche unreif, doch findet sie auch als fünfzehn-, sechzehnjährige gelegentlich schon wunderbare Metaphern, wie etwa den „blaugefroren[en]“ Himmel an Weihnachten. Später im norwegischen Exil spiegeln sich ihr die Kriegsschiffe im Kai von Oslo „wie geträumte Ungeheuer in der Sonne“.

In einer der ersten Erzählungen schlüpft sie in die Rolle eines alten ergrauten Mannes, was für eine sechszehnjährige ja schon erstaunlich genug ist. Später, im norwegischen Exil, wird sie ihren Glauben an ihr literarisches Talent allerdings verloren haben. „Ich habe keinerlei Dichterambitionen“, schreibt sie nun resigniert. „Wirklich nicht! Ich weiß, dass ich nicht im Stande bin, eine Handlung aufzubauen.“

Einige der Tagebücher sind nicht überliefert. Zumindest eines von ihnen hat ganz offenbar Maier selbst verloren. „Da kann man auch nichts machen“, kommentiert sie trocken zu Beginn des folgenden Tagebuchbandes. Die größte und schmerzlichste der durch die Verluste entstandenen Lücken konnte glücklicherweise durch Maiers Briefe an ihre in England lebende Schwester geschlossen werden. Sie betrifft die Jahre 1939 und 1940, also gerade die ersten Monate, die Maier in ihrem norwegischen Exil verbrachte. Und in einem dieser Briefe wird sie ihrer Schwester aus Norwegen eine durchaus emanzipatorische „Liebestheorie“ darlegen. „Schau, an eine große Liebe glaub’ ich prinzipiell nicht. Aus Reinlichkeitsgefühl und aus Selbstbewußtsein. Pfui, wie grauenhaft, diese schmachtenden Frauenzimmer, die innen halb sind und glauben, dass ER sie von ihrer angeborenen Blödheit und Wesensschwachheit erlösen wird. Kapierst Du nicht, dass man an sich selbst arbeiten muss und selbst Klarheit bekommen und sich durchkämpfen muss.“ Doch schon bald darauf überlegt sie, ob es nicht „eine allgemeine Eigenschaft glücklicher Ehen“ sei, „dass sie 50 Prozent unter seinem Niveau steht? Oder kannst Du Dir vorstellen“, fragt sie ihre Schwester rhetorisch, „dass sich eine Frau zufrieden fühlt, wenn sie nicht zu ihm heraufschauen kann?“ Ihre Schlussfolgerung besteht nun aber keineswegs darin, sich klaglos in dieses Schicksal zu fügen, sondern in dem allerdings unerfüllbaren Wunsch: „Na, kurz und gut, wenn ich noch mal auf die Welt komm’ möchte ich alles, nur kein Mädchen sein“. Doch dann fährt sie realistischer und auch wieder emanzipatorischer fort: „Und doch, nicht einmal ich wünsch’ mir, dass mein Mann zu mir hinaufschaut. Na … am besten ist … gleich zu gleich.“ Der nicht eben feministisch beginnende Gedankengang über das Wesen der Ehe entwickelt und wendet sich. Dies ist ganz und gar typisch für Maiers Art zu denken und zu schreiben.

„Schau, ich möchte’ ein männliches Wesen treffen, mit einem gesunden, möglichst ästhetischen Körper, mit dem ich möglichst rasch ein Kind bekommen kann“, gesteht sie ihrer Schwester ein andermal. „Wenn nicht Kind bekommen, so doch die verschiedenen Bedürfnisse erledigen, alles andere ist mir schnuppe. Vollständig egal!“ Diese Haltung klingt auch in den ersten norwegischen Tagebüchern immer wieder an. „[J]ede Hose hypnotisiert mich“, vertraut sie ihrem Tagebuch 1940 an. Tatsächlich aber bleibt sie stets sehr schüchtern, wenn sie einem Mann begegnet oder ihn sogar näher kennen lernt.

Nicht nur von ihren ersten tastenden Liebesempfindungen berichten schon die Wiener Tagebucheintragungen, dem privatesten und intimsten also, sondern auch von ihrem Interesse und ihrem Leiden am allgemeinen Unrecht. Mehrfach verspricht sie sich, sie wolle „für eine schönere Welt kämpfen“. So auch Anfang 1937. Nur wenige Tage später fügt sie allerdings skeptisch an, sie glaube, „dass alle schönen Gedanken und Regungen, dieses Streben nach etwas Besserem mit dem Alter vergehen.“ Und zumindest was sie selbst betrifft, sollte sie Recht behalten. Müde, desillusioniert und mit einem hörbaren Seufzer reflektiert sie im Mai 1940 über ihre Entwicklung: „Mein Gott! Wie bescheiden ich geworden bin. Ich habe doch mal von Aufgaben geträumt, die mich erwarten, von Diensten, die ich der Menschheit leisten werde … von der Arbeit, die mein Leben erfüllen wird. Oh! Ich wünsche mir jetzt nichts mehr als ein Heim … vier Wände, ein paar Bücher und ein bissel Himmel vor dem Fenster und … liebe Menschen, mit denen ich zusammenleben will.“

Dazwischen liegen entsetzliche Erlebnisse mit dem Wüten des antisemitischen Mobs in ihrer österreichischen Heimatstadt und die Flucht ins Exil. Doch schon in Wien ändert sich der Grundton der Eintragungen. Nach einer Verlustlücke zwischen Januar bis August 1938 klingen sie völlig anders als zuvor. Der immer stärker um sich greifende und zunehmend gewalttätiger werdende Antisemitismus deprimiert sie zutiefst: „Früher glaubten die Menschen an böse Geister, an Herren. Heute glauben sie an die Rasse. […] Ich könnte jetzt weinen um die Juden, um meine kindlichen Träume von der Menschheit und ihrer Erlösung. Ich glaube nicht mehr daran. Nein, wirklich, ich habe den Glauben verloren.“

Am 5. Oktober 1938 berichtet sie in einem ergreifenden Eintrag von einem angesichts der Shoah fast geringfügig erscheinenden Vorfall, dessen grundlegende Bedeutung sie allerdings sehr wohl erfasst und erfühlt: „Es ist früh, kein Mensch auf der Straße. Ein Jude, jung, gut gekleidet, kommt um die Ecke. Zwei SS-Männer tauchen auf. Der eine und auch der andere geben dem Juden eine Ohrfeige, der taumelt… hält sich den Kopf … geht weiter. Ich Ruth Maier, 18 Jahre alt, frage nun als Mensch, als Mensch, frage die Welt ob dies sein darf … […] Ich rede nicht von Pogromen, von Ausschreitungen gegen Juden. Vom Fenster-Einhauen, Wohnungen-Plündern … Es kommt darin die bodenlose Gemeinheit nicht so zum Ausdruck. Aber hier, in dieser Ohrfeige. […] Und ich will euch sagen, euch allen Ariern, Engländern, Franzosen, die ihr das duldet: Diese Ohrfeige, die müsst ihr alle verantworten, denn ihr habt sie geschehen lassen“.

Und wenige Tage darauf, am 16. Oktober: „Sie zerstören die Tempel. Sie reißen den alten Juden an den Bärten, sie hauen die Frauen. Sie schlagen die Fenster ein. Ruth, merk dir das! Es ist sieben Uhr abends und jetzt, in dem Moment, geht’s wieder los. Drinnen in den kleinen Gassen.“

Einige Wochen später feiert sie ihren 18. Geburtstag. Es ist dies der 9. November 1938, das Datum der sogenannten ‚Reichskristallnacht‘ und für die junge Frau „der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Pogrome sind, weiß, was Menschen tun können, Menschen, die Ebenbilder Gottes […], Juden wie Schlachtvieh im Lastauto […]. Und wenn wir alle den gelben Fleck tragen müssen: Sittlich, im Inneren, unsere Welt, die wir mit uns tragen, die können sie uns nicht nehmen.“ „Es ist alles so grauenhaft, dass ich es nicht mehr erfassen kann“, fügt sie am nächsten Tag noch immer von Entsetzen geschüttelt an. Verständlich, dass sie wie unbewusst auch immer zu dem wohl einzigen Mittel greift, das sie zumindest insofern schützen kann, als es sie das Entsetzen ertragen lässt. Sie versucht sich zu verhärten: „Was mich früher erschreckt und gequält hat, das lässt mich jetzt kalt“, schreibt sie Anfang Dezember. „Ja, als ich das erste Mal dieses ‚nur für Arier‘ auf den Bänken sah oder dieses ‚Judenverbot‘ an den Kaffeehäusern, die eingeschlagenen Fenster, da konnt’ ich’s fast nicht glauben. Jetzt geh’ ich vorüber und seh’s kaum. Nur manchmal blitzt es mir wieder auf, wenn ich da von Herbert höre, einem Burschen, so alt wie ich, hübsch und lieb, dass der jetzt in Dachau ist“. Wirklich greift der Mechanismus des Selbstschutzes also nicht.

Doch der antisemitische Terror hat noch eine zweite Wirkung auf Ruth Maier. Sie, die wie ihre ganze Familie seit 1926 nicht mehr Mitglied der jüdischen Gemeinde ist, beginnt nun, sich bewusst als Jüdin zu fühlen. „Ich bin Jüdin! Und es sollen es alle wissen und sie sollen mich auf die höchste Spitze des Kirchturms hängen, mir Fußtritte geben, mich anspucken, mich blau schlagen, ich bin Jüdin… Was wollt ihr denn noch? Schneidet mir die Adern auf, damit mein jüdisches Blut fließe. Johlt und schreit! Ihr Schweinehunde. Und wenn ihr diese Zeilen lesen solltet, packt mich an den Haaren, ohrfeigt mich. Ich stehe zur Verfügung … […] Ich werde zur bewussten Jüdin, ich spüre es. Ich kann nicht anders.“ Doch wie stets bei Ruth Maier verläuft auch die Zuwendung zum bewussten Judentum und zum Zionismus nicht ohne zweifelnde Reflexionen. „Dass ich Sozialistin bin, ist mir klar! Außerdem auch Zionistin, glaub’ ich“, schreibt sie später ihrer Schwester.

In den letzten Wiener Monaten und der ersten Zeit des norwegischen Exils gilt ihre Hoffnung dem Exil in den USA. „In einem Jahr! Da sind wir schon in Amerika. Wir haben Affidavit!“ Eine trügerische Hoffnung, wie sich herausstellen wird. Zunächst verzögert sich der Plan, in die USA zu gehen, stattdessen gehen Mutter und Schwester (der heißgeliebte Vater ist früh verstorben) nach England und sie selbst – wie sie glaubt, vorrübergehend – nach Norwegen. Dort verfällt zuerst ihr Visum für England und dann erhält sie auf dem US-amerikanischen Konsulat den Bescheid, dass eine Ausreise in die USA allenfalls nach Kriegsende möglich sein werde. „Das ist all right, insofern ich jetzt weiß, woran ich bin.“

In Norwegen kommt sie bei einer Gastfamilie unter. Ruth Maiers Vater hatte den Hausherrn Arne Strøm bereits etliche Jahre zuvor auf einer internationalen Post- und Telegrafentagung kennen gelernt. Die Aufnahme war keineswegs selbstverständlich, denn immerhin musste die Familie Strøm ihren Gast nicht nur unterbringen und verköstigen, sondern auch für ihn bürgen. Zunächst fühlt sich Ruth Maier in der Gastfamilie recht wohl. Auch darum sind die Briefe an ihre Schwester in den ersten Monaten fröhlicher und hoffnungsvoller als die letzten österreichischen Tagebucheinträge. Doch wird das Verhältnis zur Familie Strøm immer angespannter. Nicht zuletzt, weil der Hausherr während eines Spaziergangs versucht, sie zu küssen. Auch leidet die junge Frau sehr darunter, müßig sein zu müssen und kein Geld zu besitzen. So stürzt sei sich zunächst darauf, die Landessprache zu lernen, die sie sehr bald beherrscht. Geld bekommt sie gelegentlich von ihrer Schwester, die ihren Briefen immer mal wieder einige Scheine beilegt. Später wird sie sich eine Weile als Akt-Model verdingen.

Ebenso wie bereits in Wien geht sie auch im Gastland noch immer gerne und oft ins Kino. Ihr Urteil fällt allerdings auch schon mal vernichtend aus. Nach dem Besuch des Films „Marco Polo“, dessen Protagonist von Gary Cooper verkörpert wird, notiert sie in ihr Tagebuch „Ich wunder’ mich nur, dass man so einen Dreck filmen darf.“ Und sie tritt der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei bei, zu deren Versammlungen sie aber nach einiger Zeit nicht mehr zugelassen wird, weil sie die Beiträge nicht mehr zahlen kann.

Den Zweiten Weltkrieg sieht sie im Sommer 1939 nicht nur kommen (was zu dieser Zeit wohl keine größere prophetische Gabe voraussetzte), sie hofft sogar, er möge möglichst bald beginnen. Nicht etwa, weil sie ihm freudig entgegensieht („Nein, zu einer Kriegsbegeisterung kann ich mich beim besten Willen nicht aufreizen …“), sondern weil einem doch auch daran gelegen sei, „eine Operation so schnell wie möglich hinter sich zu haben. Vielleicht wird uns diese Operation das Leben kosten … macht nichts … nur schon überstanden haben …“. Den Zielen, die England in dem immer wahrscheinlicher werdenden Krieg haben wird, steht sie allerdings skeptisch gegenüber: „Ich habe Angst, dass wir uns betrügen, dass auch der Krieg von heute nichts mit Menschenrechten etc. zu tun hat, dass die verschiedenen Väter, Söhne, Geliebten etc. nur verrecken werden, um England seine Kolonien und verschiedene andere appetitanregende Leckerbissen zu bewahren. Aber jetzt will ich nicht mehr daran denken. Gegen Hitler, gegen den ‚Nur für Arier‘-Geist geht es…“.

Kaum hat der Krieg begonnen, wünscht sie sich nach England. Nicht etwa, weil sie die Besetzung Norwegens vorausahnt und gerne in Sicherheit wäre. Im Gegenteil, dort, in England, würde sie am Kampf gegen die Nazis teilnehmen können. Norwegen, so glaubt sie, werde hingegen neutral und von einer Invasion verschont bleiben. Sie würde „so gern sterben, um irgendeiner Sache willen“, vertraut sie ihrer Schwester Ende Oktober 1939 an. Und wird, typisch für sie, sofort von Selbstzweifeln geplagt: „Du, vielleicht sag’ ich das’ weil ich in Norwegen sitze, weil keinerlei Gefahr einer Bombardierung Lillestrøms besteht“. Das Deutschland besiegt werden kann, glaubt sie allerdings nicht. „Das neu gesteckte Ziel soll ja die Vernichtung Hitlers sein. Ich glaube, dieses Ziel ist sehr hoch … zu hoch, um erreicht werden zu können. Ich glaube auch nicht, dass England siegen wird.“

Bald erkennt sie es als „die größte Idiotie des … Jahrhunderts“, nicht mit Mutter und Schwester nach England, sondern nach Norwegen gegangen zu sein. Auch, weil sie in der Schule, die sie nun endlich besuchen kann, mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert wird. Und im Sommer des Jahres 1940 wird Norwegen von den Nazis besetzt. Den deutschen Soldaten begegnet sie mit berechtigtem Hass oder mit Gleichgültigkeit. „Auf dem Pier stehen deutsche Matrosen mit entblößten Oberkörpern. So gesund, so jung sehen sie aus, wie sie da in der Sonne stehen. ‚Kanonfutter!‘, denke ich und geh’ weiter.“ Und sie verachtet die Besatzer: „Dumm sind die Deutschen, böse heute, brüllen sie heute wie Tiere ihrem Führer entgegen … später … später wird wieder ein Goethe unter ihnen aufstehen.“

In dieser Zeit findet Ruth Maier eine Anstellung auf einem Bauernhof. Sie weiß, „[i]ch werde sehr viel arbeiten müssen. Schweine, Kühe füttern, melken, Boden und Fenster waschen and so on.“ Aber das stört sie nicht. Im Gegenteil: „Ich bin so froh inwendig, nicht ein bissel wehmütig werd’ ich bei dem Gedanken, dass ich mich von Lillestrøm, Frau Strøm und Mann verabschieden werde.“

Nun sollte dem zurückhaltenden Mädchen, das ihrem Tagebuch anvertraute, „wenn man so ist wie ich, ist es schwer zu lieben … Mädchen oder Bursch“, doch noch so etwas wie die, oder doch zumindest eine große Liebe begegnen: Gunvor Hofmo, in deren Nachlass sich Ende des vergangenen Jahrhunderts die meisten der Tagebücher von Ruth Maier fanden. Anfang Januar 1941 wird die neue Freundin zum ersten Mal in den Tagebuchaufzeichnungen erwähnt: „Ich kann nicht sagen, wie warm mir ist, zusammen mit Gunvor.“ Und von nun an werden die Gedanken an und die Berichte über die geliebte Frau, die mehr war als nur eine Kameradin, viele Seiten des Tagebuchs prägen. „Was an Gutem in mir noch ist, an Jungem, das kommt zum Vorschein, wenn ich mit Gunvor bin.“

Dem Druck, im besetzten Exil leben zu müssen, kann Ruth Maier dennoch immer weniger standhalten. Ende 1941 bittet sie nach einem Nervenzusammenbruch um ärztliche Hilfe und kommt in ein entsprechendes Krankenhaus, wo sie annähernd zwei Monate verbringt. In ihrem letzten Lebensjahr schreibt Ruth Maier nicht mehr so häufig ins Tagebuch „Manchmal glaube ich, mit dem Tagebuch fertig zu sein“, notiert sie im November 1941. „Ich denke, ich bin darüber hinausgewachsen, ich bin älter geworden. Das, was zu sagen war, hab’ ich gesagt. Ich bin fertig mit mir. Ich könnte jetzt 40 Jahre alt sein, so ohne Illusionen bin ich. Wozu dann noch schreiben?“

Ihre letzten Einträge berichten von den Verhaftungen der männlichen Juden in Norwegen. „Man straft nicht, man schlägt keine Menschen, weil sie sind, was sie sind. Weil sie jüdische Großeltern haben. Das ist etwas Geistesschwaches, etwas Idiotisches. Das ist zum Verrücktwerden. Das ist wider die Vernunft. Dass die Juden es aushalten, verstehe ich nicht. Dass sie nicht verrückt werden. […] Doch ich werde bei ihnen stehen. Wie immer es auch gehen mag“, schwört sie sich. „Vielleicht werden sie mich auch nehmen. Qui sait?“ endet der Eintrag. Sie schreibt ihn am 29. Oktober 1942 nieder. Zum letzten Mal greift sie am 12. November zur Feder und trägt einige Bruchstücke „aus einem Einfall dichterischer ‚Inspiration‘“ ein. Am 11. November wird sie verhaftet, nach Auschwitz verschleppt und nach der Ankunft sofort ermordet.

Keine noch so akkurate Untersuchung über Täter und Opfer der Shoah kann einem die von den Nazis ermordeten Menschen mit all ihren Leiden und Hoffnungen so nahe bringen wie es Tagebücher wie dieses tun. Will man, dass die ermordeten Menschen unvergessen bleiben, dann lese, empfehle, verschenke man das Tagebuch der Ruth Maier. Denn eine solche Lektüre lässt sich einfach nicht vergessen.

Abschließend sind jedoch noch einige kritische Anmerkungen zur Edition und dem Umgang des Herausgebers mit dem Textkorpus unerlässlich. Zunächst erschienen die, wie gesagt, größtenteils im Nachlass der mit Maier befreundeten Schriftstellerin Gunvor Hofmo aufgefundenen Tagebücher 2007 in Norwegen. Jan Erik Vold, der nun auch für die Edition der deutschen Ausgabe verantwortlich zeichnet, hat sie herausgegeben. Er sah seine vorrangige Aufgabe darin, die Manuskripte „in eine buchgerechte Form zu bringen“. Hierzu hat er die Tagebücher gesichtet und das, was ihm der Publikation würdig erschien, ausgewählt, ohne dass er es nötig fand, durch Auslassungszeichen auf fehlende Passagen aufmerksam zu machen. Gerade mal, dass dann und wann in allgemeiner Form darauf hingewiesen wird. Den übrig gebliebenen Textkorpus hat er in zwanzig Kapitel eingeteilt und mit Überschriften und kurzen Einleitungen versehen. Auch unterbricht er die Tagebuchaufzeichnungen durch lange Einschübe. Die kürzeren oder auch schon mal längeren seinem Rotstift zum Opfer gefallenen Passagen fasst er gelegentlich auf einigen wenigen Zeilen zusammen. Hiervon ist insbesondere die Kinderzeit der 1920 geborenen Tagebuchschreiberin betroffen. Statt Ruth Maier selbst zu Wort kommen zu lassen, teilt er lieber mit: „Den Rest des Monats folgen Notizen aus dem Alltag eines Schulmädchens, das durch den Park läuft, Ausflüge in den Wald macht, Klavierunterricht nimmt, Räuber und Gendarm spielt, Kirschen isst, Briefmarken sammelt, mit Freunden Spaß hat.“ Kurz, es handele sich bloß um „alltägliche Aufzeichnungen“. So ist es bezeichnend, dass Vold explizit darauf hinweisen muss, dass er den „letzte[n] große[n] Eintrag“ des im Mai 1933 beginnenden ersten Tagebuch-Heftes vom Herbst 1934 „in voller Länge“ wiedergibt. Denn ansonsten beschränkt er sich darauf, dieses erste Tagebuch auf gerade mal zwei Seiten unter Verwendung einiger Zitate kommentierend zusammenzufassen. Interessiert er sich zumindest hier wenig für die authentische Wiedergabe der Inhalte, so gibt er das Äußere der Tagebücher dafür umso akkurater wieder. Das zweite hat etwa ein Format von „19 x 25 cm“, „einen festen roten Einband, „umfasst 140 Seiten und ist vollgeschrieben“.

Oberstes Ziel des Herausgebers hätte nicht sein sollen eine buchgerechte, sondern eine textgerechte Form der Publikation zu bewerkstelligen.

Kein Bild

Ruth Maier: "Das Leben könnte gut sein". Tagebücher 1933 bis 1942.
Herausgegeben von Jan Erik Vold.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
530 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043726

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