Der Reiz des Verbotenen
In ihrem Buch „Heimliche Leser in der DDR“ haben Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag Texte über das „Leseland“ herausgegeben
Von Anabell Schuchhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie DDR bezeichnete sich selbst als „Leseland“ und prahlte auf diese Weise geradezu mit ihrer gebildeten Bevölkerung. Doch sowohl zu der Zeit der deutschen Teilung als auch danach war fast jedem bekannt, dass diese Belesenheit enormen Einschränkungen unterlag. Schriftsteller wie Christa Wolf und Heiner Müller sind nur die Bekanntesten unter denjenigen, die im Nachhinein von den Hürden einer Buchveröffentlichung in der DDR berichten konnten. Und auch die Wissenschaftler haben längst begonnen, dieses System der unausgesprochenen Zensur zu erforschen. Das Buch „Heimliche Leser“ von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag, beides bekannte Autoren und Wissenschaftler auf dem Gebiet der DDR-Literatur, hat den Anspruch, etwas Neues zu präsentieren und anstatt einmal mehr über die Schriftsteller, die Zensur oder die Stasi von einer ganz anderen Gruppe, nämlich den DDR-Lesern, zu sprechen. Doch kann das mit 406 Seiten und 42 Artikeln recht umfangreiche Buch diesen Ansprüchen auch wirklich gerecht werden?
Auffällig ist auf jeden Fall, dass alle Artikelautoren selbst aus der ehemaligen DDR stammen. Sie berichten somit auf einer Oral-History-Basis, die einerseits authentisch wirkt, andererseits aber die Gefahr des falschen Erinnerns birgt. Auch scheint dies bei manchen Berichten dazu zu führen, dass das Ziel einer wissenschaftlichen Fragestellung aus dem Blick gerät, wie etwa bei Anne Richter. In ihrem Text „Der Tresor im Kopf“ möchte sie eigentlich von ihren Interviews erzählen, in denen sie ehemalige DDR-Bürger nach ihrem heimlichen Lesen befragte. Statt jedoch gezielt Informationen zu liefern, gibt Richter bloß ihre Erfahrungen mit den Interviewten preis. Sie berichtet von Fehlschlägen, wenn der ehemalige Stasimitarbeiter sich nicht äußern wollte und von Anekdoten, die irgendein W. oder K. zu erzählen wussten. Dies kann sehr interessant für den Leser sein, jedoch auch enttäuschend, wenn man sich eine Antwort auf die Fragestellung Richters erhofft hatte.
„Aus dem Lebensbericht eines Bibliothekars“ berichtet dafür niemand geringeres als Günther de Bruyn, und auch ein Interview mit Erich Loest hat „Heimliche Leser in der DDR“ zu bieten. Das Buch enthüllt jedoch nichts Bahnbrechendes. So ist zum Beispiel der erste genannte Artikel lediglich ein Ausschnitt aus de Bruyns „Vierzig Jahre – Ein Lebensabschnitt“ (Frankfurt am Main 1996).
Die Themen aller anderen Texte des Buches sind gewiss vielfältig. Sei es zu einzelnen Verlagen, Personen, Büchern oder Zeitschriften – alles Mögliche findet sich hier. Es lohnt sich somit sicherlich, den einen oder anderen Artikel zu lesen, und ebenso kann man mit Gewissheit hier noch einige neue Details oder Aspekte in Erfahrung bringen. Die Frage, ob das Werk dem oben genannten Anspruch gerecht wird, muss man allerdings verneinen.
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