Überzeugende Versuchsanordnungen zwischen Kunst und Wissenschaft
Ein Sammelband untersucht die Zusammenhänge von Experimental- und Aufschreibsystemen vor 1800
Von Bernd Blaschke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseForschungsprojekte, Konferenzen und Bücher zu wissensgeschichtlichen Beziehungen wie „Literatur und Wissenschaften“ oder „Das Wissen der Literatur“ liegen seit gut zehn Jahren schwer im Trend der Geisteswissenschaften. Denn nicht nur transportieren Romane, Dramen und nicht selten auch Gedichte Wissensbestände und Denkfiguren; vielmehr verwendet jedes Forschen und Wissen notwendig sprachliche oder mediale Formen der Darstellung und der Kommunikation. Jede Wissenschaft greift mithin auf eine, oft implizite, wenig reflektierte, „Poetologie des Wissens“ (so Joseph Vogls trefflicher Terminus) zurück. Und diese Formen der Repräsentation wirken meist nicht erst anhand fertiger Ergebnisse, sondern beeinflussen schon die Produktion des Wissens selbst.
Bisher gab es, neben Hans-Jörg Rheinbergers Laborgeschichte der Molekularbiologie im 20. Jahrhundert („Experimentalsysteme und epistemische Dinge“) sowie einer Monografie zum „literarischen Menschenversuch im 18.Jahrhundert“ von Nicolas Pethes und einer von ihm edierten dicken Anthologie zu Menschenversuchen kaum größere Arbeiten zur Geschichte literarischer Experimente und zur textlichen Seite wissenschaftlicher Experimente. Diese Forschungslücke wird nun von Michael Gamper, Forschungsprofessor für Literaturwissenschaft an der Zürcher ETH, gründlich zu schließen versucht. Drei große Konferenzen zu Literatur und Experiment (gegliedert nach den Zeiträumen: I: 1580-1790, II: 1790-1890 und schließlich von 1890 bis zur Gegenwart) hat er dazu in Zürich veranstaltet. Die Vorträge der ersten Konferenz liegen nun als Buch vor. Und dessen Lektüre lohnt sich sowohl aus wissenschaftshistorischer wie aus literarischer Perspektive.
Experimente sind fraglos eines der wichtigsten neuzeitlichen Verfahren der Wissensgewinnung. Sie werden in Gampers Einleitung definiert als provozierte Erfahrung. Ihre Durchführung impliziert eine Verschmelzung performativer und repräsentativer Verfahren, denn jeder empirische Ablauf bedarf der Interpretation und der kommunikativen Distribution des beobachteten Geschehens. Als organisierte und kontrollierte Experimente fußen die Versuche auf der menschlichen Einbildungskraft; ihre Ergebnisse müssen sprachlich und rhetorisch kommuniziert werden. Dadurch sind Experimente unhintergehbar an Ästhetik, Rhetorik und Narrativik gebunden. Sebastian Kühn analysiert im vorliegenden Band sehr eindringlich die Sprachregelungen, Kontexte und Adressierungen naturwissenschaftlicher Experimentiertagebücher im 17. und 18. Jahrhundert. Aber auch die Literatur hat, spätestens und verschärft seit Beginn der Neuzeit, eine Disposition zum explorativen Schreiben – also zur fiktiven, sprachspielerischen Erkundung des Möglichen und des Wahrscheinlichen.
Die konzise Einleitung des Bandes entwirft eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Rahmenerzählung für die folgenden, zahlreichen Fallstudien (deren wertvolle Einzelerkenntnisse hier nicht alle erwähnt werden können). Seit dem Beginn der Neuzeit beförderte demnach die Aufwertung der theoretischen Neugierde im Rahmen der Umstellung von göttlicher Providenz auf eine ergebnisoffene Weltordnung der Kontingenz das experimentelle Ausprobieren und Durchspielen zur zentralen Erkenntnis-Technik. Die Kultur des Experimentierens bleibt dabei nicht auf Laboratorien beschränkt, sie umfasst vielmehr auch Menschenexperimente, Versuchsverfahren in den Künsten und je nach Weite des Experiment-Begriffs auch Gedankenexperimente oder politisch-soziale Großversuche. Der Physiker und Sudelbuch-Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg betrachtete im Mai 1792 die Französische Revolution als ein politisches Experiment, in dem ein Volk seine Staats-Verfassung neu organisiert; auch Georg Forster und Friedrich Schlegel, der in seinen Athenäums-Fragmenten 1798 von den „Versuchen der moralischen Chemie im Großen“ schrieb, versuchten, die politischen Ereignisse in Frankreich als Experimente zu begreifen.
Die 22 Fallstudien heben an mit einem Beitrag zu Francis Bacons literarischen Experimenten. Wolfgang Krohn begreift Bacons Schreiben in verschiedenen Gattungen und Stilen, in dessen Zug dieser auch den Gattungsname „Essay“ erfand, als eine lebenslange Suche nach der passenden Rhetorik für sein Projekt einer Erneuerung der Gesellschaft durch Wissenschaft. Wolfgang Müller-Funk betrachtet das Werk des zweiten Taufpaten der literarischen Essayistik, Michel de Montaigne, unter dem Aspekt, wie dieser durch seine spezifische Hermeneutik und Schreibweise zu anthropologischen und kulturellen Versuchsanordnungen des Selbsts und der sozialen Lebenswelt gelangt, denen es weniger um Natur- als um Selbsterkenntnis geht.
Hans Christian Hermann analysiert den Übergang von einer alchemistischen zu einer experimentellen Naturforschung in Namen, Ikonografie und Programmatiken der 1657 in Florenz gegründeten Accademia de Cimento. In Anlehnung an Foucaults wissenshistorische Unterscheidung von „épreuve“ (Probe) und „enquête“ (Untersuchung) und auch an dessen Geschichte der Macht zeigt Hermann, dass die zunehmende Aufwertung des Experiments nicht nur in den reinen Wissenschaften stattfindet, sondern auch in der wirtschafts- und steuerpolitischen Innovation eines ökonomischen „Katasters“ und avancierter Buchhaltung durch Cosimo de’ Medicis Verwaltung am Werk ist.
Martin Maurach und Richard Nate widmen sich den Worten, Bildern und Metaphern, mit denen sowohl theoretische Schriften wie auch literarische Texte die neuen, irritierenden und gefährlichen Formen des Wissenserwerbs durch Experimentatoren, die oft als Abenteurer oder Projektemacher bezeichnet wurden, darstellen und durch die Wahl der Bilder und Begriffe die neuen Wissenstechniken kulturell und moralisch rahmen. Nate zeigt, wie die epistemische Idee der Offenheit ihr literarisches Pendant in Formen wie dem Essay und der Romanze finden, die sich der im 17. Jahrhundert herrschenden neoklassizistischen Literaturtheorie der Geschlossenheit entgegensetzen lassen. „Scientific Romances“ wie Jonathan Swifts „Gulliver’s Travels“ oder Daniel Defoes stärker realistisch erzählter „Robinson Crusoe“ demonstrieren nicht nur eine Aufwertung der curiositas sondern schildern zugleich Robinsons Überlebenserfahrungen als Abfolge von Versuchen, Irrtümern, Korrekturen und schließlich erfolgreicher Kolonisation.
Eher fiktionale, gedankenexperimentelle Konstellationen von Experiment und Literatur untersuchen die Studien von Peter Schnyder zum Schlussmythos von Gottfried Wilhelm Leibniz’ „Essais de Théodicée“ und Cornelia Wild, die Blaise Pascals Wette als Engführung von Mathematik, Ästhetik und Theologie begreift und dabei dessen Beharren auf den Kategorien der Nichterkennbarkeit und des Nichtwissens herauspräpariert. Spezifisch barocken Literaturformen des Gesprächsspiels und den darin referierten und diskutierten naturwissenschaftlichen Experimente widmen sich Misia Sophia Doms sowie Maximilian Bergengruen. Letzterer zeigt, wie in Georg Philipp Harsdörffers „Frauenzimmer Gesprächsspielen“ einerseits im Stile polyhistorischen Vielwissens übliche Meinungen zum Verhältnis von Kunst und Natur im Experimentieren vorgetragen werden, und wie diese dabei doch in einer, durch die Gesprächsform bedingten, „diskursiven Examination“ vorgeführt werden, aus der sich letztlich ein Plädoyer fürs wissenschaftliche und fürs sprachspielerische Experimentieren ergibt. Dem Dialog als einer probativ-offenen Form der Wissensvermittlung (oder auch schon der Wissenserzeugung) geht auch Thomas Fries nach anhand der naturhistorischen respektive ökonomischen Dialogfiktionen von Denis Diderot und Ferdinando Galiani.
In einem überraschenden Vergleich konfrontiert Ulrich Stadler experimentelle Anordnungen im Umkreis der Londoner Royal Society, beim als spekulativen Rationalisten verschrieenen Philosophen Christian Wolff und in Pedro Caldéron de la Barcas Schauspiel „La vida es sueño“. Der Dichter unterscheide sich von den weitaus mechanistischer konzipierten Versuchsauffassungen der Naturwissenschaftler oder des Philosophen nicht nur durch den Versuchgegenstand: ein Mensch, ja ein Königssohn, der auf seine Handlungsoptionen als Machthaber hin getestet wird. Stadler sieht in Caldérons theatralischer Versuchsanordnung metawissenschaftliche, poetische experimentelle Freiheitsspielräume eröffnet, die in der Moderne zu einer der wichtigsten Funktionen fiktionaler Literatur werden sollten – auch wenn diese poetischen Möglichkeitsräume beim katholischen Autor Caldéron selbst umgehend wieder mit „gegenreformatorischer Ideologie ausgekittet“ wurden. Literarische Menschenversuche analysiert zudem der Beitrag von Roland Borgards, der an literarischen Texten von Jean-Jacques Rousseau und Nicolas Edme Restif de la Bretonne Kreuzungsversuche von Menschen und Affen, die in der Aufklärung ein besonderes Faszinosum zu sein schienen, sehr materialreich in der Geschichte literarisch-anthropologischer Entwürfe verortet. Um Experimente an Menschen handelt es sich schließlich auch bei den seit der Aufklärung zahlreichen pädagogischen Reformprojekten. Jörg Zimmers gelehrter Aufsatz rekonstruiert August Ludwig Schlözers „Anti-Basedow“, ein Plädoyer für eine Verwissenschaftlichung der Erziehungskunst, dem der Göttinger Geschichts- und Rechtsprofessor dann in der Erziehung seiner Tochter Dorothea praktisch experimentelle Bestätigung verlieh. Dorothea Schlözer, die im Alter von 16 Jahren schon zehn Sprachen beherrschte, wurde mit 17 Jahren 1787 als erste Frau zum Dr. phil. promoviert. Zimmer versteht es, den Lebens- und Bildungslauf Dorotheas nicht nur als ein pädagogisches Experiment ihres Vaters in den Erziehungsdebatten der Zeit zu verorten – er zeigt auch, welche Rolle die medialen Kommunikationsformen (vor allem Briefe und Bilder) bei der erfolgreichen Propagierung dieses geglückten Menschenversuchs spielten.
Michael Gamper, von dem im Herbst 2009 eine Monografie zum Thema „Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870“ erscheint, erkundet die Experimentierkunst Lichtenbergs als Physikprofessor, der sich fleißig mit den damals überaus populären Versuchen mit Elektrizität befasste, doch zugleich auf dem experimentellen Potential der Mathematik und auf den fiktional-imaginativen Anteilen beim Experimentieren beharrte. Yvonne Wübben zeigt in einer ähnlichen Herangehensweise die Analogien zwischen den in irritierendem Plauderton vorgetragenen Berichten von physiologischen Vivisektionsberichten sowie „Gedanken“-Texten über anthropologische Vermögen wie Lachen, Weinen, Seufzen und Träumen, wie sie an der Universität Halle in der Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreich entstanden. Beiden Arten der Experimentalkultur, der an geöffneten Körpern mit dem Messer arbeitenden wie auch der eher über Texte und von außen beobachtete Körper argumentierenden Gedanken-Kurzprosa, ging es um die Erzeugung von Neuem und dessen angemessene Darstellung in essayförmigen Texten.
Weitere Aufsätze widmen sich spezifischen Textgattungen, etwa der Traumerzählung (Benjamin Specht), dem Märchen (Christine Weder) oder Johann Gottlob Benjamin Pfeils „Versuch in moralischen Erzählungen“ (Gunhild Berg) und zeigen, wie diese im Kontext einer weitgehend durchgesetzten Aufklärung mit literarischen Mitteln experimentieren und zudem Experimente narrativ darstellen und auswerten. Überraschend ist dabei Christine Weders Erkenntnis, dass in Christoph Martin Wielands „Musäus“ und E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen sowohl die alte Magie wie auch die neue Experimentierkunst kritisch auf die Probe gestellt werden – und die Märchen somit weder einer naiven Experimentiergläubigkeit anhängen, noch einfach romantischen Zauberglauben oder Wissenschaftskritik zum Ausdruck bringen. Vielmehr betrieben die Märchen mittels Ironisierung von Magie und Experimentiermode literarische Aufklärung der Aufklärung.
Andreas Seidler zeigt, wie Wielands Übergang von den geschlossenen Formen des Epos’ und Lehrgedichts mit ihren metaphysischen Aussagen zur modernen, offenen und experimentellen Form des Romans durch zeitgenössische naturwissenschaftliche Verfahren beeinflusst wurde. Marie-Christin Wilm demonstriert vor allem an den theoretischen Schriften Jakob Michael Reinhold Lenz’, wie dessen Leitkategorien der Erfahrung, des Versuchs, der Beobachtung und der Probe am zeitgenössischen Diskurs über Experimente partizipieren und wieweit sich sein Werk insgesamt als ein literarisches Experimentalsystem über die conditio humana verstehen lässt.
Gampers Heuristik zu Literatur und Experiment ist wissenschafts- und literarhistorisch überaus anregend. Die Ergebnisse des ersten Bandes dieser großangelegten, an den medialen Ausprägungen orientierten Kulturhistorie des Experimentierens erweisen die Schnittstellen von provozierten Erfahrungen und rhetorisch-narrativen Schreibverfahren als ästhetisch wie epistemisch relevante Schlüsselmomente. Wir dürfen also gespannt sein auf die beiden folgenden Bände, denn insbesondere in der Moderne des 20. Jahrhunderts ist die Rede von literarischen Experimenten ubiquitär und zum Dogma der Avantgarden aller couleur geworden.
Der vorliegende Band sondiert mit der Fülle und Prägnanz seiner Einzeluntersuchungen die Früh- und Vorgeschichte des Experimentierens und seiner textuellen Formatierungen. Er liefert, besonders konzentriert in der Einleitung doch etwa auch in Gunhild Bergs Typologie über acht verschiedenen Ebenen, auf denen man vom Experimentalcharakter der Literatur sprechen kann, fruchtbare Fragestellungen und Forschungsmodelle. Die Interaktions- und Implikationsgeschichte von Experimentalsystemen und Aufschreibesystemen, von kontrollierten Versuchsanordnungen, Beobachtungen und ihrer sprachlich-medialen Rahmung ist damit, auch für die frühe Neuzeit, gewiss noch nicht erschöpfend abgehandelt. Es lassen sich fraglos weitere triftige Fallstudien zu weiteren Wissenschaften und zu weiteren Texten und Autoren anfertigen. Doch bietet für solche Folgestudien der vorliegende Band eine inspirierende und solide Grundlage. Es ist nun einmal zum gründlichen Versuch gekommen. Die Ergebnisse überzeugen. Und die dabei entwickelten und geprüften wissenschafts- wie literarhistorischen Werkzeuge laden zur weiteren Verwendung ein.
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