Schärfere Blicke auf die Kontexte

Sigrid Weigel und Daniel Weidner haben einen Band mit Studien über Walter Benjamin herausgegeben

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Zur Aktualität Walter Benjamins“ – so hieß vor über 35 Jahren das Bändchen 150 der Reihe suhrkamp taschenbuch. Es war posthum dem 80. Geburtstag des Polydenkers und Schriftstellers gewidmet und leitete die vom Rückenwind der ’68er Revolte getragene, ungemein erfolgreiche Entdeckung eines Autors ein, der zu Lebzeiten vor allem von intellektuellen Spezialisten wahrgenommen worden war. Damals etablierte sich als einer von mehreren immer wieder gebrauchten Topoi im Umgang mit Benjamin seine „Aktualität“: Die Gegenwart wurde mit den Texten aus der Weimarer Republik und dem Exil interpretiert, wobei sich deren weit vorausschauende Diagnosekraft offenbarte. Dieser „Aktualität“ nach einer beispiellosen globalen „Karriere“ der Schriften Benjamins und deren Eingang in die Folklore des akademisch-publizistischen Smalltalks ihre Reverenz zu erweisen, können sich auch die Herausgeber der neuen „Benjamin-Studien“ nicht enthalten. „In jüngster Zeit haben Denken und Schriften Walter Benjamins eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Trotz der kaum mehr zu überblickenden Fülle an Publikationen über sein Werk oder einzelne seiner Theoreme, Begriffe oder Schriften hat sich das Potenzial seiner Arbeiten längst noch nicht erschöpft“, schreiben sie in ihrem kurzen Editorial. Als „in mehrfacher Hinsicht erneuerter Benjamin“ sehen die Herausgeber den Autor diskutiert, bedingt „durch eine deutliche Internationalisierung seiner Wirkung, wie zahlreiche Übersetzungsprojekte zeigen, und eine Ausweitung der Rezeption über die angestammten Fächer der Benjamin-Forschung Germanistik und Philosophie hinaus; durch die Faszination, die viele seiner Denkfiguren und -bilder auf Künstler, Architekten, Filmemacher und andere Praktiker ausüben; durch die Auseinandersetzung mit seiner anhaltenden Arbeit am Nachleben von Religion, Kult und Magie in einer modernen, technikdurchwirkten Kultur, wobei heute die alten Lagerkämpfe zwischen Parteigängern von Materialismus und Theologie nicht mehr den Blick verstellen für seine offensive Einlassung auf die Anliegen beider Seiten.“

Positiv hervorheben möchten die Herausgeber, dass sich der Umgang mit Benjamins Denken zu normalisieren scheint, „seine Texte haben nicht mehr die sakrosankte Aura einer esoterischen Sendung, die allenfalls paraphrasiert oder durch andere seiner Texte kommentiert werden können. Es ist möglich geworden, in verschiedenen Kontexten mit Selbstverständlichkeit auf seine Texte zurückzugreifen, sie in Verbindung mit anderen, sei es zeitgenössischen sei es gegenwärtigen Texten zu bringen und ihr analytisches und epistemisches Potenzial zu nutzen.“ Und: „[…] Die gegenwärtige Benjamin-Renaissance ist vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen zu sehen wie: die Rückkehr der Religionen in die Politik, die neuen Formen politischer Gewalt, der Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft, der ,iconic turn‘ in den Kulturwissenschaften und die Durchdringungen verschiedener Medien im World Wide Web.“

Ist damit für genügend Gegenwart gesorgt? Die in dem Band versammelten Aufsätze – meist Beiträge der Tagung innerhalb des „Benjamin-Festivals“ von 2006 in Berlin – widmen sich in einzelnen Gruppierungen dem aktuellen Bild-Denken, der Philosophie, einzelnen Benjamin-Texten und archivalischen Neuigkeiten.

Georges Didi-Huberman versucht, Benjamins Bild-Denken kunsthistorisch an einem Wachsrelief von Pascal Convert zu testen, das ein bekanntes Foto einer Pietà-Szene aus dem Kosovokrieg zum Vor-Bild hat. Convert spart in seinem Wachsrelief die Hände der trauernden Frauen aus, und Didi-Huberman setzt die passagere Geste der zentralen Figur, deren Hände auf dem Foto in Bewegung sind, in Beziehung zu Benjamins Zitat von den „Gesten, hinter denen sich ein Himmel auftut“. Der besondere Status des ,Bildes‘ zwischen Zeit und Raum lässt sich damit eingehend diskutieren. Dem entgegengesetzt oder zumindest erweiternd beigestellt sind Sigrid Weigels Beobachtungen an den konkreten Bildern aus der Kunstgeschichte, die Benjamin in seinen Texten zum Gegenstand seiner Spekulationen macht. Weigel weist nach, wie Bildwahrnehmung bei Benjamin als Generator für spätere (manchmal sehr viel spätere) Formulierungen von Metaphern, „dialektischen Bildern“ und Allegorien fungiert. Ausgehend von Heinz Brüggemanns in der Benjamin-Forschung Epoche machender Hinwendung zu den erst spät entdeckten Farbfragmenten folgt Weigel den epistemischen Anstößen, die Gemälde für Benjamins Theoriebildung besaßen.

Heinz Brüggemanns Aufsatz zu Benjamins Farbspekulationen in Spannung zu seinem filmtheoretischen Profil ist zugleich eine Diskussion der Beziehungen zu Gerhard Scholem und Siegfried Kracauer, da Scholem als Mathematiker über die Malerei des Kubismus nachdachte und Kracauer in einem Entwurf seiner Filmgeschichte Benjamins Theorem des „Optisch-Unbewussten“ sehr nahe kam. Ausgehend von seiner Arbeit über die Farbfragmente folgt Brüggemann der Abgrenzung der Benjamin’schen Kunstbetrachtung von Scholems neukantianischer Interpretation des Kubismus hin zu einer Theorie des Films.

Die Abteilung Philosophie eröffnet Samuel Weber mit Beobachtungen zu Benjamins „-barkeiten“, in denen sich dessen Vorsicht vor Neologismen ausdrückt (obwohl einige Begriffe durch Benjamin erst in die deutsche Sprache mit einer stabilen Bedeutung eingeführt wurden, etwa: „sich einschreiben“) und ihn zur Bildung von Wörtern wie „Mitteilbarkeit“ oder „Lesbarkeit“ veranlasste, die jeweils die Möglichkeit einer Aktivität betonen. Weber geht dieser formalen, aber natürlich weit in Benjamins Sprach-Denkweise führenden Idiosynkrasie in subtiler Weise und mit Gewinn von ihrem kantischen Entwurf her nach.

Dass die sprachliche Verfasstheit des Denkens ein zentrales Problem für Benjamin darstellte, greift Detlev Schöttker in einem zusammenfassenden Beitrag zum Verhältnis Benjamins zu Wittgenstein auf, in dem noch einmal die wichtigsten äußeren und inhaltlichen Bezüge der beiden Denker und ihrer Probleme aufgeführt werden. Wirklich Neues erfährt man in dem elegant geschriebenen Text nicht, der immerhin mögliche Gründe für Benjamins Nicht-Benennung seiner Wittgenstein-Lektüre anführt.

Dass die sprachliche Ausgangssituation Benjamins aus einem phänomenologischen Interesse an der Wahrnehmung resultiert, kann man Uwe Steiners Beitrag über die Präsenz der Husserl’schen Philosophie in den frühen Schriften entnehmen. Letztlich führt diese kursorische Übersicht über verschiedene Texte und Ansätze zu einer Parallelisierung der Benjamin’schen Intentionen mit Helmut Plessners Ansätzen einer anthropologischen Fortschreibung der kantischen Philosophie der Moderne.

In der Abteilung zu einzelnen Texten Benjamins widmet sich zunächst Anne-Kathrin Reulecke der autobiografischen „Berliner Chronik“, jenen Aufzeichnungen, die später durch das Projekt der „Berliner Kindheit um 1900“ ersetzt wurden und deren oft als „Vorbereitung“ vernachlässigter eigener literarischer Status neue Einsichten vermittelt. In ihren Aufzeichnungen entwickelt Benjamin die eigene Biografie als räumliches Schema, das von Reulecke auf die Raumstrukturen von Labyrinth und Stammbaum zurückgeführt wird.

Cornelia Wild profiliert in ihrer Studie die „Übung“ als Weg aus einer von der Erfahrung abgeschnittenen Moderne hin zur Möglichkeit ihrer Aktualisierung. Mit Michel Foucault als weiterem Gewährsmann reißt die Autorin noch einmal die Zwiespältigkeit der Moderne zwischen Verlust und Möglichkeit auf und entwirft die Problematik der Maschine und der anthropologischen Anverwandlung.

Den literaturkritischen Schriften Benjamins sich zuwendend gibt Heinrich Kaulen einen Aufriss der für die Zukunft möglicherweise an Gewicht gewinnenden Frage nach den zeitgenössischen Kontexten der Entstehung und Publikation der Benjamin’schen Schriften. Er betont noch einmal die Bedeutung der bisher eher vernachlässigten Untersuchung der biografischen, publizistischen und ökonomischen Umstände, unter denen Benjamin einzelne Texte produzierte und veröffentlichte. Heinrich Kaulen zeigt am Beispiel von drei Rezensionen, wie bisherige Editionen Benjamins komplexe Vernetzung in seiner Zeit eher zugunsten eines Dreigestirns von Freundschaften (Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Bertolt Brecht) unterschlugen.

Einem speziellen Aspekt jener Kontexte geht Jane Newman in ihrer Analyse des Zusammenhangs von Melancholie, Protestantismus und Shakespeare-Tradition im Trauerspiel-Buch nach, wobei ihr einige neue Perspektiven auf den höchst komplexen Text gelingen.

Auf die archivalische Verfasstheit der erhaltenen Text(fragment)e Benjamins bezieht sich der letzte Abschnitt des Bandes. Davide Giurato exemplifiziert am Beispiel des Fragments „Ausgraben und Erinnern“ noch einmal die Fragwürdigkeit bisheriger Übertragungen der Fragmente in Werkausgaben und plädiert für die genauere Beachtung der eigenen Merkmale in den nicht von Benjamin publikationsfertig gemachten Textstufen. Mit phantasievoller Akribie liest Sabine I. Gölz Ms. 931, eine Notiz zur mimetischen Fähigkeit des Menschen, geschrieben auf einem Notizzettel mit Werbung für das Mineralwasser „San Pellegrino“. Sie zeigt, wie sehr das Thema und seine inhaltliche Realisierung hier im Zusammenhang mit dem zufälligen Papierträger von Benjamins Schrift zu lesen ist. Trifft in diesem Aufsatz höchste Aufmerksamkeit auf wilde Theorien, so lassen sich darin die Pole der möglichen Aporien heutiger Benjamin-Exegese erkennen. Aus einem reichen Fundus schöpft Erdmut Wizisla, dessen Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Walter Benjamins Archive“ anschaulich die Bedeutung von Archiven auch für Benjamin selbst vorführt. Hier werden in großer Nähe zur Lebenswelt des Denkers die Materialität der Gegenstände seiner Inspiration sowie die Methoden ihrer Ordnungen vorgeführt und ihr Beitrag zur Herstellung von Aktualität analysiert.

Den Band schließt eine Hommage von Julia Kristeva an den verstorbenen Literaturwissenschaftler Stéphane Mosès ab.

Welche „Aktualität“ wohnt also diesen Beiträgen inne? Ein Großteil wirkt eher zusammenfassend, um vereinzelte Ansätze noch einmal gebündelt zu einem Einfluss gewinnenden Strang in der Benjamin-Forschung zu machen. Die Kontextualität wird dabei immer wieder gefordert, sei es als weitere Beschäftigung mit seinen Lebens-und Produktionsumständen, sei es als Einbettung einzelner Texte in ihren publizistischen und theoretischen Kontext, sei es als archivalische Mikrostudien zu erhaltenen Textstufen. Die genauere Erforschung dieser Felder dürfte über die Jahre hinweg als noch zu beackerndes Feld größeren Zulauf innerhalb der Benjamin-Philologie erhalten.

Titelbild

Daniel Weidner / Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin-Studien 1.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
267 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546374

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