„Menschen sind die gefährlichsten Tiere auf der Welt“
In Yiyun Lis düsterem Romandebüt „Die Sterblichen“ wird eine kleine Provinzstadt zum Modell für ein ganzes Land
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseYiyun Lis (Jahrgang 1972) erster Roman beginnt am 21. März 1979, der Frühlingstagundnachtgleiche, und endet am 1. Mai desselben Jahres, dem „Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse“. Zwischen diesen beiden symbolischen Eckdaten lässt die Autorin in der fiktiven Stadt Hun Jiang – in den 1960er-Jahren schnell und lieblos aus dem Boden gestampft, um dem revolutionären Versprechen, die Industrialisierung auf dem Lande durchzusetzen und gleichzeitig Wohnraum für alle in die neuen Städte strömenden Chinesen zu schaffen, mehr schlecht denn recht zu genügen – eine kurze politische Tauwetterperiode Einzug halten, die allerdings nach noch nicht einmal vierzig Tagen von der örtlichen Nomenklatura blutig beendet wird.
Sowohl am Anfang wie auch am Ende des Buches steht je eine Hinrichtung. Ist es zunächst Gu Shan, eine junge Frau, die sich in der Kulturrevolution durch besondere Radikalität ausgezeichnet hat, ehe sie der eigene Freund denunzierte, um einen Posten zu ergattern, die nach einer so genannten „Denunziationszeremonie“ erschossen wird, muss zum Schluss Wu Kai, eine Radiomoderatorin mit erstklassigen Aufstiegschancen, den Preis für ihre Ehrlichkeit bezahlen. Neben diesen Ereignissen verfolgt der Leser das Schicksal von gut einem Dutzend Menschen, das versucht, sich in einer Welt, in der das Individuum nicht zählt, zurechtzufinden.
Gut 1.000 Kilometer von Beijing entfernt herrschen auch 3 Jahre nach Maos Tod und dem Ende der Kulturrevolution noch jene Kräfte, die es gewohnt sind, Anordnungen von oben wenn nötig mit brutaler Gewalt durchzusetzen. Parteikader, die davon profitieren, dass sie bei sämtlichen zu fällenden Entscheidungen das eigene Gewissen ausschalten, haben Posten ergattert, die ihnen einen gewissen Wohlstand und mannigfaltige Privilegien sichern. Die Politik des pragmatischen Deng Xiaoping, die darauf hinausläuft, die strenge Kontrolle über das Leben jedes Einzelnen schrittweise zu lockern und Wirtschaft und Gesellschaft mit Blickrichtung auf eine „sozialistische Marktwirtschaft“ zu reformieren, kommt bei ihnen nur mit Verzögerung an. Dass in Beijing 1978 eine „Mauer der Demokratie“ errichtet worden ist, auf der freiheitliche Geister offen für ihre Meinungen eintreten, erreicht die reformwilligen Kräfte in Hun Jiang deshalb erst zu dem Zeitpunkt, als die sich in dieser Tatsache bekundende Offenheit den tonangebenden Genossen in der Hauptstadt bereits wieder zu weit geht und sie deshalb beschließen, den Zugang zu diesem Ort der freien Kritik zu erschweren, ehe die Mauer 1979 ganz abgeschafft wird und eine Verhaftungswelle die hartnäckigsten Oppositionellen zum Schweigen bringt.
Yiyun Lis Roman führt seine Leser in einer Abfolge realistischer Szenen ganz nahe heran an diese Realität. Man ist unmittelbar dabei, wenn eine junge Frau, die sich von der Fanatikerin zur das System Anklagenden gewandelt hat, öffentliche Demütigungen erleiden muss und anschließend wie eine tollwütige Hündin erschossen wird. Damit sie nicht noch im Augenblick ihres unmittelbar bevorstehenden Todes den ihr von Kindern und Erwachsenen entgegengeschleuderten Anklagen widersprechen kann, werden ihr vor der Zeremonie die Stimmbänder durchtrennt. Und weil ein verdienter Genosse, bei dem man sich einschmeicheln will, gerade auf ein paar gesunde Nieren wartet, geben die örtlichen Kader die Erlaubnis, der Verurteilten diese herauszuschneiden, noch während sie lebt. Als Dank des kommunistischen Potentaten treffen ein paar Tage später moderne Fernsehgeräte bei den Verantwortlichen ein, Luxusgüter, wie man sie in der abgelegenen Stadt ansonsten nicht bekommt.
Empörend und schockierend ist auch, was den anderen Personen des Buches widerfährt. Da muss ein Lehrer im Ruhestand, der längst den Glauben an sich selbst und an den Nutzen der von ihm der nächsten Generation vermittelten Bildung verloren hat, die Kugel bezahlen, mit der man seine Tochter erschießt. Da wird eine missgebildete Zwölfjährige von den eigenen Eltern herumgestoßen und zu den niedersten Arbeiten gezwungen, weil sie voraussichtlich nicht zu verheiraten ist und als überflüssige Esserin der Familie bis ans Ende ihres elenden Lebens auf der Tasche liegen wird. Da setzen Mütter ihre Neugeborenen aus, weil sie nichts haben, um sie großzuziehen. Und Kinder denunzieren Unschuldige, um sich das eigene Leben zu erhalten.
Geschickt verflicht die Autorin Einzelschicksale miteinander. Lässt für die einen kurze Momente der Hoffnung aufkeimen, um letzten Endes doch wieder alles mit Dunkelheit zu überziehen. Verweilt für eine Weile im Bannkreis einer Figur, ehe sie deren Weg sich mit dem eines ihrer anderen Protagonisten kreuzen lässt. Und bekommt mit dieser Montagetechnik, diesem Aneinanderfügen von aussagekräftigen Einzelbildern und -szenen, die sich häufig gegenseitig ergänzen und kommentieren, das Leben in einem ganzen Land in den Fokus. Zeigt, dass man in diesem System den Finger lieber nicht heben sollte, mit dem man auf sich und seine Bedürfnisse aufmerksam machen möchte. Demonstriert, wie wenig ein Einzelner da zählt, wo er unter Milliarden aufwächst, und das auf jeden, dem es in dieser Gesellschaft gut geht, Tausende kommen, die durch nicht endende Leiden dafür bezahlen müssen.
Unter all den Figuren, denen der dauernde Kampf ums Überleben allmählich jede menschliche Regung ausgetrieben hat, muss man lange suchen, ehe man auf ein, zwei unkorrumpierbare Menschen stößt. Wu Kai, die als Stimme der Partei täglich die Nachrichten für ihre Mitbürger verliest, ist einer von ihnen. Würde sie sich anpassen, sähe ihre Zukunft rosig aus. Weil sie aber ohne die Wahrheit nicht leben kann, zerbricht ihre Ehe mit einem gut situierten Funktionärssohn, von den Schwiegereltern, die sich Querdenker in der Familie nicht leisten können, wird ihr der eigene Sohn entrissen und sie selbst landet am Ende vor demselben Erschießungskommando wie zu Beginn des Romans Gu Shan, mit der sie vorzeiten gemeinsam zur Schule ging.
Yiyun Li, die seit 1996 in den USA lebt und „Die Sterblichen“ auf Englisch geschrieben hat, musste beim Schreiben ihres Romans keinerlei Rücksichten nehmen. Die Erinnerungen an ihr eigenes Leben im kommunistischen China der 1970er- und 1980er-Jahre des letzten Jahrhunderts und die Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern dienten als Inspirationsquellen. Als Buch über eine Zeit, die inzwischen historisch überwunden ist, möchte sie ihren Roman, wie sie in einem Interview bekannte, allerdings nicht verstanden wissen. Stattdessen versucht sie sich mit einem immer noch aktuellen Begriff von Heldentum auseinanderzusetzen, der einer „Sache“ alles unterordnet – selbst das Leben der ihr fraglos Dienenden. Diesem Wahnsinn des Opfers um eines fernen Ziels Willen, der, wenn er auf die Massen übertragen wird, den Einzelnen von jeglicher Verantwortung für sich selbst befreit, stellt sie Menschen gegenüber, die stets nach dem Warum fragen, bevor sie handeln. Bei ihnen, macht sie deutlich, liegt die Wahrheit – auch wenn sie hier am Ende unterliegen.
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