„Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen!“

Frank Bajohr und Michael Wildt haben einen Sammelband zur Gesellschaftsstruktur im nationalsozialistischen Deutschland herausgegeben

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Einband zeigt eine Fotografie des Jahres 1941: Ein Pranger im thüringischen Altenburg. Die ‚Delinquentin’ trägt ein Schild um den Hals: „Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen!“ Der exklusive Charakter des ‚nationalen Sozialismus’ lässt sich schlagender nicht versinnbildlichen. Das wesentlichste Verdienst der Herausgeber des Sammelbandes über die „Volksgemeinschaft“ von Frank Bajohr und Michael Wildt ist darin zu sehen, dass sie innere wie äußere Abgrenzungen dieser ‚Volksgemeinschaft‘ mit seltener Deutlichkeit sichtbar machen. Die „Neuen Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus“, die der Band verspricht, sind eine wichtige, erhellende Lektüre.

Dass die ‚Volkgemeinschaft‘ erst sechzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus von der historischen Wissenschaft hinreichend gründlich erforscht wird, ist recht besehen nicht erstaunlich. Nicht nur, dass allzu viele Bundesbürger ‚Volksgenossen‘ gewesen waren – und diesem Umstand ungern Rechnung trugen. Auch glaubten sich kritische Historiker wie Heinrich August Winkler und Hans Mommsen genötigt, die ‚Volksgemeinschaft‘ aus geschichtspolitischen Erwägungen heraus zu depotenzieren: „In dem gesellschaftlichen Umfeld der 1970er Jahre, in dem eine Mehrheit der Zeitgenossen den Nationalsozialismus noch persönlich erlebt hatte und mit der „Volksgemeinschaft“ häufig positive Erinnerungen verband, suchten die Sozialhistoriker diese mit sozial-statistischen Parametern als realitätsfernes Propagandakonstrukt zu entlarven, um damit nicht zuletzt einer möglichen Beschönigung des Nationalsozialismus zu begegnen.“ Dass die Vokabel ‚Volksgemeinschaft‘ bereits im Kaiserreich bekannt war, durch das Gemeinschaft stiftende ‚Augusterlebnis‘ der Kriegshysterie 1914 verstärkt und in den Weimarer Jahren Gemeingut aller politischen Lager wurde; dass es sich keineswegs um ein bloßes nationalsozialistisches „Propagandakonstrukt“ handelt – ebenso wenig um gesellschaftliche Realität –, geriet aus dem Blick. Die jüngere, von solchen Rücksichten befreite Historikergeneration kann sich der ‚Volksgemeinschaft’ unbefangener und gründlicher annehmen. Frank Bajohr und Michael Wildt ist dies vorzüglich gelungen – als Veranstaltern eines Symposiums am Hamburger Institut für Sozialforschung (2008) und Herausgebern eines Sammelbands, der wesentlich auf dieser Tagung gründet: „Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus“ (2009).

Gegenüber ‚materialistischen‘ Ansätzen à la Götz Aly („Hitlers Volksstaat“, 2005) bringen Bajohr, Wildt und ihre Korreferenten psychologische Gesichtspunkte zur Geltung: „Volksgemeinschaft“ gerät zum Korrektiv der charakteristisch überspitzten Darlegungen Alys, die den Eindruck erwecken, die Zugehörigkeit zur ‚Volksgemeinschaft‘ habe durchweg materielle Partizipation garantiert. Gegenüber älteren, auf Hitlers Charisma und ‚dämonische‘ Anziehungskraft fokussierenden Analysen, die Deutschlands Bevölkerung in einer allzu bequemen Opferrolle sehen, wird das Gemeinschaftserlebnis unter (vorgeblich) gleichen ‚Volkgenossen‘ akzentuiert. Dabei widerstehen die Autoren der Versuchung, im Ton der Einfühlung oder Anklage zu sprechen. Gewiss werden Vermutungen über psychische Befindlichkeiten angestellt, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Doch geschieht dies in nüchternem Ton, und für begriffliche Trennschärfe ist durchweg gesorgt. Das einschlägigste Begriffspaar: ‚Inklusion vs. Exklusion‘ dient den meisten Beiträgen als Leitlinie. Es wirkt erhellend auch dort, wo eine kohärente Ein- und Ausgrenzungspolitik schlicht nicht vorhanden war. Dies gilt besonders für die Aufsätze von Birthe Kundrus: „Volkstumspolitische Inklusionen und Exklusionen im Warthegau und im Generalgouvernement“ und Beate Meyer: „Erfühlte und erdachte ‚Volksgemeinschaft‘: Erfahrungen ‚jüdischer Mischlinge‘ zwischen Integration und Ausgrenzung“.

Der Nationalsozialismus ist ein prekärer Gegenstand, gerade dort, wo er aus Sicht der ‚Volksgenossen‘ Gutes bewirkte. Man denke an Philipp Jenningers arglos fatale Bundestags-Rede zu den Novemberpogromen von 1938. Den Autoren ist zugute zu halten, dass solcherlei Zweideutigkeiten konsequent vermieden werden – trotz des Bemühens zu ‚verstehen‘.

An einer Stelle ist die Wortwahl dennoch nicht glücklich. Ähnlich Götz Aly – wiewohl ohne dessen polemischen Furor – erwecken Bajohr und Wildt, womöglich absichtslos, den Eindruck, der deutsche Sozialstaat könne als Folge nationalsozialistisch kontaminierter Haltungen gelten: „Zweifellos hat die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ausgedient, aber Vorstellungen politischer und sozialer Gemeinschaftlichkeit, Wünsche nach Einheit und Geschlossenheit, wie sie bis heute zum Diskurs über die Parteiendemokratie gehören, sowie nach sozialer Sicherheit durch staatliches Handeln, d. h. ‚von oben‘, sind im Vergleich mit Großbritannien oder den USA, wo das Moment individueller Freiheit und subsidiärer Organisation des Sozialen deutlich stärker ausgeprägt ist, in Deutschland nach wie vor virulent.“

Diese Einschätzung führt in die Irre: Sozialstaatlichkeit ist auch anderenorts anzutreffen – sei es in Frankreich oder Skandinavien –, und zwar ohne den Keim des Faschismus in sich zu tragen. Eben dies geht aus Thomas Etzemüllers vorbildlich differenzierendem Aufsatz über das sozialdemokratische schwedische ‚Volksheim‘ – einschließlich seiner eugenischen Aspirationen – hervor: „Total, aber nicht totalitär: Die schwedische ‚Volksgemeinschaft‘.“

Am Schluss steht Malte Thießens Aufsatz über „Erinnerungen an die ‚Volksgemeinschaft‘ nach 1945“. Er geht unter anderem auf den Fall Eva Hermans und deren dummdreiste Einlassungen über das ‚Gute‘ am Nationalsozialismus ein. Thießen zeigt auf, dass viele, die sich solcherlei Reminiszenzen an die ‚Volksgemeinschaft‘ hingeben, nicht so sehr Exklusions- als Inklusionsmechanismen im Sinne haben – ohne deren Zusammengehörigkeit zu durchschauen –, nicht so sehr das Welt erobernde ‚Herrenvolk‘, sondern die ‚Schicksalsgemeinschaft‘ der Ausgebombten, die nach der ‚Stunde Null‘ ein demokratisch gewendetes, ‚neues‘ Deutschland kreieren: die ‚Volksgemeinschaft ohne Führer‘.

Die sprachliche Qualität der Beiträge ist im Allgemeinen hoch, und überflüssige begriffliche Komplikationen werden vermieden. Grammatikalische oder orthografische Flüchtigkeitsfehler sind ausgesprochen selten. „Volksgemeinschaft“ mit seinen neun Autoren meist jüngeren Alters kann darin als repräsentativ für deutsche Zeitgeschichtsschreibung gelten: Dass Historiker weit häufiger als Philosophen oder Germanisten den ‚richtigen‘ Ton treffen, fachliche Professionalität mit leserfreundlicher Einfachheit zusammenführen, ist nicht zu übersehen. Es mag am Anspruch auf faktenbezogene Sachlichkeit liegen, auch an der Überzeugung, ‚gesellschaftsrelevante‘ Erkenntnis vermitteln zu müssen, mithin einer exoterischen Ausdrucksweise verpflichtet zu sein.

Eines darf von diesem Band nicht erwartet werden: Eine monografische, lehrbuchhaft kompakte Darstellung nationalsozialistischer Verhältnisse. Die Themenwahl ist dafür allzu disparat. Dies freilich kann kein Einwand sein: Zu lückenhaft ist die Quellenlage, zu schmal die statistische Basis. Mehr als einzelne, einigermaßen eklektische Schlaglichter sind vorerst nicht zu verlangen. Im Übrigen erwecken Frank Bajohr und Michael Wildt zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, mehr als – überaus erhellende – Momentaufnahmen bieten zu können.

Titelbild

Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
236 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783596183548

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